Nullzeit
Unauffällig gewannen wir an Tiefe. Schließlich lächelte sie, nickte.
Ich winkte Theo heran, um ihn in die Übungen einzubeziehen. Wir begannen mit dem Hovering, dem Versuch, eine Minute oder länger möglichst reglos im Wasser zu schweben. Sie lagen dicht beieinander, die Arme verschränkt, und konzentrierten sich darauf, so ruhig zu atmen, dass die Luftmenge in ihren Lungen sie nicht auftreiben oder absinken ließ. Ich sah auf die Uhr, um die vorgesehene Minute zu stoppen, als sich Theo plötzlich an den Lungenautomaten fasste und ein paar hektische Drehungen vollführte. Er riss den Oktopus aus der Halterung, führte ihn zum Mund und warf ihn gleich wieder fort. Selbstverständlich besaß er noch nicht die Routine, um das korrekte Zeichen zu geben – ich verstand auch so, dass er durch beide Mundstücke keine Luft bekam. Bevor ich ihn erreichen konnte, um ihm meinen Oktopus anzubieten, wie wir es für Notfälle besprochen hatten, stieß er sich vom Grund ab und schoss an die Oberfläche. Ich hatte keine Chance, ihn festzuhalten. Bei einer Tiefe von acht Metern stellte das kein Problem dar. Bei größeren Tiefen konnte eine solche Aktion im schlimmsten Fall das Leben kosten.
Ich folgte eilig an die Oberfläche und bedeutete Jola, ebenfalls aufzusteigen. Es kostete Kraft, Theo davon abzuhalten, beim Husten noch mehr Wasser zu schlucken. Mit acht Kilo Blei am Gürtel lag er wie ein Betonpfeiler in meinen Armen. Als ich erfolglos versuchte, sein Tarierjacket mit Luft zu füllen, ahnte ich, was passiert war. Jola, die sich vor Lachen schüttelte, machte jede weitere Erklärung überflüssig. Sie hatte beim Hovering hinter ihn gegriffen und ihm das Ventil zugedreht.
Bis wir den Strand erreichten, wuchs meine Wut so sehr, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht loszuschreien. Kaum hatten wir das Ufer erreicht, platzte es aus mir heraus. Das Folgende würde ich genau einmal sagen: Ab jetzt laufe ihre letzte Chance. Sollte es einer von ihnen noch einmal wagen, einen so kindischen und obendrein gefährlichen Scheiß abzuziehen, würde ich das Training mit ihnen abbrechen, ganz egal, wer sie seien, wofür sie sich hielten und wie viel sie zahlten. An Land könnten sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, aber unter Wasser gälten meine Regeln. Dort hätten sie sich wie Erwachsene zu benehmen. Unter Wasser seien sie Partner, einander ausgeliefert auf Leben und Tod.
Sie schwiegen betroffen. Auch Theo schaute erschrocken. Anscheinend hatten sie mir einen solchen Ausbruch nicht zugetraut. Ich kündigte an, einen Kaffee trinken zu gehen. In der Zwischenzeit könnten sie sich überlegen, ob sie sich an die Regeln halten oder die Zusammenarbeit sofort beenden wollten. Damit ließ ich sie stehen. Im Café Wunder Bar gab es deutschen Käsekuchen. Manchmal brauchte ich das. Die Wut ließ nur langsam nach.
Jolas Tagebuch, zweiter Tag
Sonntag, 13. November. Nachmittags.
Er ist ausgerastet. Kaum reingekommen, Taschen abgestellt, nasse Handtücher aufgehängt, da packt er mich am Arm und schleudert mich quer durch den Raum. Nicht wegen der Sache mit dem Ventil. Nicht wegen des Equipment-Spruchs. Sondern weil ich ihn beim Schwimmen bloßgestellt hätte. Und was hätte ich machen sollen, alter Mann? Absichtlich langsam schwimmen? Damit du nicht wie eine lahme Ente aussiehst? Er sagt, wir wissen beide, dass ich keine Gelegenheit auslasse, ihn lächerlich zu machen. Ich soll mich entschuldigen, sonst knallt er mir eine. Ich sage, du knallst mir doch sowieso eine, früher oder später. Er packt meine Haare. Um meine Haare habe ich Angst. Die Haare sind Teil meines Kapitals. Ich sage: Entschuldigung. Er lässt mich los, hat aber immer noch diesen Blick.
Völlig idiotisch zu glauben, ein Urlaub könnte etwas ändern. Schon vor Jahren hat der alte Mann es aufgeschrieben: »Auswandern. Das ergäbe doch nur Sinn, wenn das Land, in das wir fliehen, nicht wir selbst wären.« Wie ich ihn liebe in solchen Sätzen. Genau deshalb lässt er mich nichts mehr lesen. Auf diese Weise nimmt er sich mir weg. Tut so, als würde er nicht arbeiten. Löscht seine Sachen. Versteckt sie. Veröffentlicht nichts. Lügt mich an. Weil er mir nicht gönnt, mit einem Schriftsteller zusammenzuleben. Einen Versager verdiene ich, mehr nicht.
Es ist so still hier. Die Menschenleere in Lahora ist wie Atmen unter Wasser. Schön, aber ein bisschen unheimlich. Ich habe nicht mal ein Auto, um hier wegzukommen. Rilke: Wer, wenn ich schriee, hörte
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