Nullzeit
versuchte, Todd zu ignorieren, der mich mit Blicken durchbohrte. Dass er nicht nur hieß wie der verstorbene Hund meiner Eltern, sondern auch genauso aussah, war mir von Anfang an unheimlich gewesen. Antje glaubte fest daran, dass wir den ersten Todd umgebracht hatten, indem wir ihn in Deutschland zurückließen. Ich befürchtete, dass sie ebenso fest glaubte, beim zweiten Todd handele es sich um eine Reinkarnation des ersten, den sie durch Wiederverwendung des Namens zurück ins Leben gerufen hatte.
»Findest du nicht?«
Ich drehte ihr und dem Hund den Rücken zu. Ich hasste es, wenn Menschen einander beurteilten. Es war eine Sucht. Ein Fluch. Ich hatte Deutschland verlassen, weil ich das Leben in einem allumfassenden Netz aus gegenseitigen Beurteilungen nicht länger ertrug. Urteilende und Beurteilte befanden sich im permanenten Kriegszustand, und jeder füllte, je nach Situation, die eine oder die andere Rolle aus. Alles, was meine Kunden von zu Hause erzählten, waren Berichte von der Urteilsfront. Wie sie den Chef fanden. Wie sie von ihren Kollegen gefunden wurden. Was sie von der Kanzlerin hielten. Was sie von anderen Tauchern dachten. Nach den ersten drei Bier am Abend dann auch, wie ihre Frauen performten. Und am Ende des Urlaubs notierten sie auf tauchernet.de, wie sie mich gefunden hatten. Als müsste der Mensch befürchten, ohne Beurteilungen auf ewig zu verstummen.
»Manchmal starrt Jola so vor sich hin«, sagte Antje. »Wie weggetreten. Und sie isst nichts. Ist dir das auch aufgefallen?«
Für meine Abneigung gegen Beurteilungen gab es einen Grund. Bevor ich an Silvester 1997 Deutschland verließ, hatte ich fünf Jahre Jura studiert. Ich hatte zu einer Generation von Schülern gehört, die nicht wollte, dass die Schule zu Ende ging. Für uns war das bestandene Abitur kein freudiges Ereignis. Es machte uns Angst. Die meisten von uns hatten keine Ahnung, was sie mit ihren Leben anfangen sollten. In der Schule war alles einfach gewesen. Man wusste, wie man die Dinge richtig machte und wie viel Rebellion man sich erlauben durfte. Ging etwas schief, war im Zweifel der Lehrer schuld. Ich verlängerte den Wehrdienst um ein Jahr bei den Pioniertauchern und entschied mich danach für das Jurastudium, weil es, wie man sagte, alle Möglichkeiten offen hielt. Es dauerte nicht lang, bis ich lernte, das Fach zu lieben. Wieder hatte ich etwas gefunden, bei dem ich alles richtig machen konnte. Solange ich in den Vorlesungen mitschrieb und drei Abende die Woche in der Bibliothek verbrachte, genoss ich das angenehme Gefühl, auf der sicheren Seite zu stehen. Die Klausuren absolvierte ich in der Regel mit mehr als neun Punkten. Der Neid meiner Kommilitonen machte es überflüssig, an irgendetwas zu zweifeln.
Nach fünf Jahren Studium kam ich mit einer Note aus den Examensklausuren, die das Mündliche als bloße Formalität erscheinen ließ. Ich kaufte ein Paar Schuhe, suchte das richtige Rasierwasser aus und ging zum Friseur. Am Prüfungstag fuhr ich leicht nervös, aber mit dem Gefühl, mich auf einen Triumph freuen zu können, ins Justizministerium.
Vier Professoren an einem langen Pult. Davor ich und ein weiterer Prüfling, dessen schlechte Vornote im ganzen Raum zu riechen war. Je länger die Professoren ihn durch die Mühle drehten, desto unruhiger rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Ich setzte mich auf die Hände, um nicht versehentlich wie ein Streber im Deutschunterricht den Arm hochzureißen. Ich versuchte, Blickkontakt mit den Prüfern aufzubauen und durch das Spiel meiner Augenbrauen zu signalisieren, dass ich die Antwort auf jede einzelne Frage kannte. Kurz gesagt, ich benahm mich wie ein Vollidiot.
Staatsrechtler Brunsberg richtete schließlich das Wort an mich. Er war bekannt für seinen Mundgeruch. Angeblich sprach er den Studenten absichtlich direkt ins Gesicht und freute sich darüber, dass sie aus Angst vor schlechten Noten den Kopf nicht abwandten.
»Herr Fiedler«, sagte Professor Brunsberg, »da Sie viel wissen, ist Ihnen der Name Montesquieu bestimmt ein Begriff.«
Wie auf Knopfdruck brach mir der Schweiß aus. Politische Theorie hatte im gesamten Jurastudium keine Rolle gespielt. Wir sollten lernen, was ein Erlaubnistatbestandsirrtum ist. Nicht, was tote Philosophen über das Funktionieren des Staates erzählt hatten. Mir blieb nichts anderes übrig, als langsam zu nicken.
»Schön, Herr Fiedler. Dann buchstabieren Sie mal.«
»Wie bitte?«
»Spreche ich undeutlich? Buchstabieren
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