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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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öffnen sich, ich schnappe nach Luft. Es ist, als würde er mir mit der Luft auch das Gehör abdrücken. Das Geräusch des Windes ist nicht mehr da. Absolute Stille. Es ist dunkel im Raum. Sein Gesicht sehe ich in großer Entfernung. Sein Mund bewegt sich. Er schaut mich die ganze Zeit an. Ich denke, dass ich möglicherweise ersticken werde, wenn ich jetzt kotzen muss. Ich frage mich, wie lange es dauern kann. Manchmal braucht er sehr lange. Ich denke, dass mir gleich schwarz vor Augen wird. Dann wird mir schwarz vor Augen.
    Was Lotte und mich verbindet, ist, dass wir beide eine Menge aushalten können. Ich muss immer daran denken, wie sie vor der Küste des Sudan auf der »Chadra« haust, einem hundert Jahre alten arabischen Perlenfischerboot, das Hans Hass als improvisiertes Expeditionsschiff dient. Zusammengepfercht mit zehn Männern auf den von Ungeziefer besiedelten Planken. Wie sie nachts in ihr Tagebuch schreibt, wenn die Hitze sie nicht schlafen lässt. »12. August. Im Kino werden dann die Leute in weiche Fauteuils zurückgelehnt sitzen, einander Bonbons anbieten und denken: Ach, wie nett! Auf so einem Schiff würde ich auch gerne fahren. Wie romantisch! – Ich glaube, ich werde in Zukunft Expeditionsfilme mit ganz anderen Augen sehen, und bei unserem Film werde ich mich fragen: Bin ich das wirklich?«
    Ich liege in seinen Armen. Er hält mich so, wie er mich immer halten sollte, fest und gut. Er streichelt meinen Rücken, mein Haar, mein Gesicht. Ich kann wieder hören. Er weint. Er sagt, was für ein tapferes, braves Mädchen ich bin. Wie sehr er mich liebt, bis zum Wahnsinn, mehr als alles auf der Welt. Was für ein schlechter Mensch er ist. Dass ich ihn trotzdem nicht verlassen darf. Weil er mich braucht. Weil ich sein Engel bin. Er weint heftiger. Ich sauge seine Nähe ein wie eine Droge. Mein Kiefer schmerzt. Ich fange an, ihn zu trösten. Sage, dass alles gut wird. Dass wir uns nur ein bisschen mehr anstrengen müssen. Er klammert sich an mich wie ein Kind. Dankt mir, als hätte ich sein Leben gerettet. Ich lächele. Ich bin absolut sicher, dass wir es schaffen werden. Ich bringe ihn ins Bett.
    Kurz darauf schnarcht er bei halb offener Tür. Ich setze mich mit meinem Heft vors Haus und stelle mir vor, ich befände mich an Deck eines Schiffs und es sei die Hitze, die mich nicht schlafen lässt.

6
    S ie schläft. Ihre Lippen stehen leicht offen, so dass die niedliche Lücke zwischen den Schneidezähnen zu sehen ist. Ich verspüre große Lust, ihr über den Kopf zu streicheln, und überlege, ob ich es wagen kann. Als meine Finger ihre Stirn berühren, öffnet sie die Augen. Ich sage ihren Namen: Jola. Eine Sekunde sehen wir uns an, dann reißt sie den Rachen auf. Wie bei einer Muräne fährt ihr ein zweites Kieferpaar aus dem Schlund. Mit dem Gebiss eines Raubfischs schnappt sie nach meinen Fingern.
    Ich schreckte zurück und saß aufrecht im Bett. Es war stockdunkel, die Digitalanzeige des Weckers zeigte vier Uhr früh. Nach und nach erkannte ich, dass die Frau neben mir nicht Jola, sondern Antje war. Sie schlief mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gekippt, in der Haltung einer Gekreuzigten.
    Langsam beruhigte sich mein überdrehtes Herz. Jetzt begriff ich auch die unnatürliche Finsternis: Antje hatte die Fensterläden geschlossen. Noch immer zog der Wind um die Ecken des Hauses, auch wenn er nicht mehr ganz so hungrig heulte wie ein paar Stunden zuvor. Ich hasste Träume, die von einem Psychologen erfunden schienen. An Einschlafen war nicht mehr zu denken. Ich konnte ebenso gut aufstehen und in die Werkstatt gehen.
    Vor dem Haus blieb ich kurz stehen und sah zur Casa Raya hinüber, die als heller Fleck inmitten tiefer Schatten lag. Für einen Moment glaubte ich, eine menschliche Gestalt mit langen Haaren kauere auf der Gartenmauer. Aber es war nur ein Feigenkaktus, dessen Glieder der Wind bewegte.
    Das Päckchen war gestern im Lauf des Tages gekommen und von Antje auf der Werkbank deponiert worden. Zum ersten Mal hatte ich mir vorgenommen, einen Trockentauchanzug mit Heizsystem auszustatten. In hundert Metern Tiefe war das Wasser kalt. Das Helium im Gasgemisch begünstigte die Auskühlung; dazu kamen die langen Dekompressionszeiten. Das Päckchen enthielt zwanzig Meter einpoligen Drahts, wie er auch für Sitzheizungen verwendet wird, eine Heizungsdurchführung, Stromkabel, ein paar E/O-Cords und einen 12-Volt-Akku. Ich breitete meinen Unterzieher auf dem Tisch aus,

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