Nullzeit
fädelte Faden in eine Nadel und hatte im gleichen Augenblick alles um mich herum vergessen. Als Antje mich holte, war es draußen taghell und schon fast Zeit zum Aufbruch.
Es war kühl geworden. Theo hatte den Leinenanzug gegen Jeans und Anorak getauscht, was ihn sympathischer machte. Obwohl der Wind abgeflaut war, würde sich das Meer erfahrungsgemäß erst gegen Abend beruhigen. Mein Vorschlag, den Tag mit Sightseeing an Land zu verbringen, wurde abgelehnt. Auch der Verweis auf Wellengang beim Einstieg und schlechte Sicht unter Wasser stieß auf taube Ohren. Ich sagte Sätze, in denen die Begriffe »schwierige Bedingungen« und »auf eigene Gefahr« vorkamen. Jola lächelte mich an und stieg ins Auto. Ich war froh, dass mit ihren Zähnen alles zum Besten stand. Wir machten uns daran, die Insel zu überqueren, um es auf der windabgewandten Seite zu versuchen.
Irgendwie kamen die beiden mir an diesem Morgen seltsam vor. Erst in Teguise ging mir ein Licht auf: Sie verhielten sich einfach nur völlig normal. Theo fragte: »Schatz, könntest du mir das Mineralwasser aus dem Rucksack geben?«, Jola erwiderte: »Gerne«, und reichte das Wasser. Sie saßen beide vorn, schwankten leicht mit den Bewegungen des VW-Busses und hielten die Hände auf den Knien. Als ein Handy piepste, war es mein eigenes. Die SMS stammte von Jola.
»Ich freu mich aufs Tauchen, J.«
Der Tauchplatz bei Mala lag einsam und war nicht ganz leicht zu erreichen. Flache Einstiegsstellen existierten nicht. Man musste über glitschiges Gestein abwärts klettern, barfuß, die schwere Flasche auf dem Rücken, Flossen und Maske unter dem Arm, um dann von einem Felsen in die Bucht zu springen. Den Bus ließ ich am Rand der Schotterpiste stehen; im schwarzen Sand zogen wir uns um. Langsam, Fuß für Fuß, einander an schwierigen Stellen die Hände reichend, stiegen Jola und Theo hinab. Der Seegang war stärker als erhofft. Ich beschloss, mich zu beeilen, damit sie nicht zu lange nach unten in die Wellen starrten. Schnell machte ich vor, wie sie ins Wasser zu springen hatten, eine Hand am Bleigurt, die andere vor dem Gesicht. Theo streichelte Jolas Schulter, bevor er sich abdrückte. Neben mir kam er wieder an die Oberfläche und zeigte »ok«.
Jola stand noch auf dem Felsen, ihre Körperhaltung dokumentierte einen Kampf. Offensichtlich gab sie ihren Beinen Befehle, die diese nicht ausführen wollten. Schließlich warf sie sich nach vorn, ein wenig zu heftig, und stürzte genau auf mich zu. Ich dämpfte ihren Aufschlag, hielt sie fest, blies ihr Tarierjacket vollständig auf, sorgte dafür, dass ihr Kopf über Wasser blieb. Sie hatte den Lungenautomaten verloren und hustete. Ich wollte so schnell wie möglich runter, die Nähe der Felsen war nicht ungefährlich. Unten würde Ruhe herrschen. Ich gab das Zeichen zum Abtauchen, und wir sanken.
Augenblicklich umfing uns Stille. Das besondere Schweigen des Meeres. Bewegungen verlangsamten sich, Kommunikation wurde zu einer tänzerischen Choreographie aus Zeichen und Gesten. Unter Wasser waren die Beziehungen einfach, Bedürfnisse eindeutig und Reaktionen radikal. Wer zehn Meter in die Tiefe tauchte, reiste zugleich zehn Millionen Jahre in der Evolutionsgeschichte zurück – oder an den Anfang der eigenen Biographie. Dorthin, wo das Leben begann, im Wasser schwebend und stumm. Ohne Sprache keine Begriffe. Ohne Begriffe keine Begründungen, ohne Begründungen kein Krieg. Ohne Krieg keine Angst. Nicht einmal die Fische fürchteten uns. Einige kamen neugierig heran und begleiteten uns ein Stück. Verhielten wir uns ruhig, warfen sie intensive Blicke in unsere Taucherbrillen. In exotischen Welten war der Tourist zugleich Attraktion. Mich faszinierte der Unter-Wasser-Frieden, in dem Jäger und Beute zusammenlebten, einander höflich auswichen, unterbrochen nur vom kurzen Aufflackern des Hungers, der kein Verrat, sondern ein allgemein akzeptierter Vorgang der Auswahl war.
Dem Wellengang zum Trotz war die Sicht erstaunlich gut. Vor unseren Augen erstreckte sich einer der schönsten Tauchplätze der Insel. Die bizarre Vulkanlandschaft setzte sich unter Wasser fort, eine steinerne Stadt aus Türmen, Säulen, Torbögen und Zinnen. Als oben die Sonne durch die Wolken brach, schwebten wir inmitten eines Doms aus aufsteigenden Luftblasen und Licht. Ich spürte das Glück wie eine Faust im Magen. Neben mir lag Theo im Wasser und blickte ebenfalls nach oben.
Bei Jola stimmte etwas nicht. Um einen Lavastrom zu umrunden,
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