Nullzeit
sich vor lauter Angst, auf die Bühne gerufen zu werden, im Kabarett ganz nach hinten setze, fühle sich im Internet berechtigt, ihr Können zu kommentieren.
»Wir brauchen ein Gesetz!«, rief Theo. »Wer einen anderen kritisiert, ohne sich selbst der Kritik auszusetzen, wird mit Redeverbot nicht unter zwei Jahren bestraft.«
Sie tauschten ein einvernehmliches Lächeln. Ich hörte gern zu, wenn meine Kunden auf Deutschland schimpften. In meinen Ohren klangen sie wie Soldaten auf Fronturlaub, die aus dem Kriegsgebiet berichteten. Sie erinnerten mich daran, wovor ich geflohen war. Gaben mir das Gefühl, alles richtig zu machen. Ich deckte mein Glas zu, als Theo nachschenken wollte, und stieß mit Mineralwasser an. Das Essen kam. Wir verschmähten die Beilagen. Wir badeten bis zu den Ellenbogen im Hummersaft.
Jola fragte, warum ich Deutschland verlassen hätte. Ich erzählte von Brunsberg und Montesquieu. Sie hielten sich die Seiten vor Lachen. Während ich Jola anschaute, die nicht mehr wie eine Schauspielerin, sondern einfach wie eine übermütige junge Frau aussah, dachte ich an den Vormittag. Die Sache mit dem zugedrehten Ventil erschien mir plötzlich weniger dramatisch.
Immer noch lachend fragte ich, warum sie nicht einfach auf der Insel blieben, wie alle, die keine Lust mehr hätten auf ein Leben zwischen sinnlosem Stress und schlechtem Wetter. Theo tauchte die Hände ins Zitronenwasser und antwortete im Ernst. Dass er mich zugleich beneide und bemitleide. Er knackte den nächsten Hummerschwanz, entfernte ein Stück Darm und überließ Jola das schönste Stück aus der Mitte.
»Mit dem Geld ihrer Familie könnte Jola eine Luxus-Finca kaufen«, sagte Theo. »Auf dem schönsten Basalthügel. Boot inklusive.«
Jola verzog das Gesicht. Es war körperlich zu spüren, wie die Stimmung kippte.
»Ich bin nicht meine Familie«, sagte sie.
»Ob ich mich nun in Berlin von ihr aushalten lasse oder hier, ist völlig egal. Vielleicht wäre es hier sogar weniger erniedrigend.« Theo lachte, um anzuzeigen, dass er einen Witz gemacht hatte. Als er Jola küssen wollte, schob sie ihn von sich. Die erste Flasche Weißwein war leer.
»Aber ich kann das Schlachtfeld nicht kampflos verlassen«, sagte Theo. »Jola und ich, wir sind Kämpfernaturen. Stimmt’s?«
Jola schaute in eine andere Richtung. In das Schweigen hinein brachte Geoffrey unaufgefordert die nächste Flasche, fragte, was wir von der Schuldenpolitik der Amerikaner hielten, und verließ den Tisch, bevor jemand antworten konnte. Das machte er immer so. Jola begann, über Amerika zu sprechen, das sie seit einem Theaterworkshop in New York gut zu kennen glaubte. Ich war daran gewöhnt, die Menschen nicht retten zu können. Ich lehnte mich zurück und hörte zu. Letztendlich war es besser so. Ein Paradies war kein Paradies mehr, wenn die halbe Welt dorthin übersiedelte. Das galt besonders für Inseln.
Nach dem Essen war ein Sturm aufgezogen, der zur Windstille am Morgen passte. Er zerrte an unseren Hosenbeinen, schnitt uns in die Gesichter. Wir stemmten uns lachend dagegen. Theo hielt Jola beim Gehen um die Taille gefasst.
»Damit du nicht wegfliegst!«, rief er und küsste sie aufs Haar.
Sie wollten unbedingt das Mirador besichtigen, das berühmte Café mit Aussichtsplattform, vom Inselkünstler Manrique am höchsten Punkt des Famara-Massivs in den Felsen gebaut. Antje nannte Manrique einen Hundertwasser für Arme. Die ganze Insel stand voll mit seinem großformatigen Sperrmüll. Aber die Touristen liebten seine naiven Figuren, standen Schlange vor seinen Gebäuden und kauften Ansichtskarten von Toilettenmännchen mit überdimensionierten Geschlechtsteilen. Glücklicherweise war Manrique verstorben, bevor er die Insel in ein Gesamtkunstwerk verwandeln konnte.
Meinen Einwand, dass es am Mirador abends um zehn nichts zu sehen gebe – das Café hatte geschlossen und war ringsum von Mauern gesichert –, ließen sie nicht gelten. Dann eben ein Verdauungsspaziergang. Jola kaschierte die Tatsache, dass sie mein Einverständnis bereits gekauft hatte, mit einem Bitte-bitte-Gesicht.
Wir gingen die Straße oberhalb der Steilküste entlang, die von einer kniehohen Mauer begleitet wurde. Dahinter ein Stück nackte Erde, dann fiel die Klippe ab. Fünfhundert Meter senkrechte Felswand, unten das wütende Meer. Am Himmel stand ein halber Mond inmitten eines Kranzes aus weißem Licht. Schwarze Wolkenfetzen jagten vorbei, so dass man glaubte, die Erde in rasendem Tempo
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