Nullzeit
der weit ins Meer reichte, hatte ich die beiden bis dicht an die Riffkante geführt. Dort fiel der Boden senkrecht ab. Zwei Zackenbarsche, lang wie erwachsene Männer, lagen auf der Kante, als genössen sie die Aussicht. Jola war über das Riff hinausgeschwommen und stieß in viel zu hoher Frequenz Luftblasen aus. Wie ein Vogel, der nicht sicher war, ob er wirklich fliegen konnte, starrte sie in die Tiefe. Höhenangst stellte unter Wasser ein ernsthaftes Problem dar. Mit ein paar Flossenschlägen war ich bei ihr und fasste sie am Arm. Sie fuhr zusammen. Für eine Sekunde glaubte ich, sie würde nach mir schlagen.
Mit den Jahren hatte ich einen Automatismus entwickelt: Je hektischer sich ein Taucher zeigte, desto ruhiger wurde ich. Meine Bewegungen verlangsamten sich, bis ich kaum noch wusste, ob ich etwas tat oder einfach nur noch vorhanden war. Hinter der Taucherbrille starrte mich Jola mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Brust hob und senkte sich viel zu schnell, sie hyperventilierte bereits. Mehrmals drückte ich ihren Oberarm, um ihre Aufmerksamkeit für mich zu gewinnen. Als ihre Augenlider zu flattern aufhörten und sie sich auf mich zu konzentrieren begann, nickte ich lobend: Gut so. Langsam führte ich eine Hand vom Mund weg, schloss dabei die Augen: Ausatmen. Warten. Ich öffnete die Augen: Jetzt du. Sie atmete aus, riss aber gleich darauf wieder Luft in die Lungen, schaute panisch nach links und rechts, blickte auch schon nach oben, in der Überlegung, ob sie einfach aufsteigen sollte. Ich verstärkte meinen Griff um ihren Arm und schüttelte deutlich den Kopf: Nein. Schau mich an. Ausatmen. Warten. Langsam einatmen. Jetzt machte sie mit, die Augen noch immer zu weit geöffnet. Wir fanden einen gemeinsamen Rhythmus. Ausatmen. Warten. Langsam einatmen. Sie beruhigte sich. Ich ließ ihren Arm los, ergriff ihre Hand und schüttelte sie: Gratulation, gut gemacht. Schüchtern erwiderte sie mein »ok«-Zeichen. Als ich mich von ihr lösen wollte, klammerte sie sich an mir fest: Verlass mich nicht! Ich sah hinter der Maske, dass sie weinte. Das Gefühl zu ersticken gehörte zum Schlimmsten, was ein Mensch erleben konnte. In diesem Augenblick brauchte Jola nur noch eine einzige Sache auf der Welt. Mich.
Ihr Finimeter zeigte unter hundert Bar, sie hatte in zwei Minuten die halbe Flasche leer geatmet. Mir kam es darauf an, den Tauchgang ordnungsgemäß fortzusetzen. Zu den wichtigsten Dingen, die ein Anfänger begreifen musste, gehörte die Erkenntnis, dass Probleme beim Tauchen unter Wasser zu lösen waren. Notaufstieg war keine Option. Ich signalisierte ihr, dass ich meinen Luftvorrat mit ihr teilen würde. Im flachen Wasser hatten wir geübt, zu zweit aus einer Flasche zu atmen. Ich zeigte ihr meinen Oktopus und sah, dass sie verstand. Luft holen. Den eigenen Lungenautomaten aus dem Mund nehmen, auf den Oktopus wechseln. Weiteratmen. Sie machte es gut.
Wir nahmen einander bei den Händen. Ab jetzt gehörten wir zusammen wie siamesische Zwillinge, mit zwei Schläuchen an dieselbe Luftzufuhr angeschlossen. Langsam schwammen wir los. Ich spürte ihr Zittern, Kreislaufschwäche nach der Hyperventilation. Vermutlich fühlte sie sich kurz vor dem Erfrieren. So gut es die Ausrüstung zuließ, schlang ich ihr einen Arm um die Taille und zog sie an mich. Natürlich konnte ich sie unter Wasser nicht wärmen, aber Frieren ist, wie das meiste im Leben, in erster Linie eine Frage der Einstellung.
Theo hatte die Szene mit Interesse beobachtet. Statt weiter nach Rochen Ausschau zu halten, behielt er uns im Auge, als hätte er in uns die faszinierendsten Wassertiere des Atlantiks entdeckt. Ich führte Jola nah an die Küstenfelsen heran, zeigte ihr grellgelbe Schnecken und zwischen den Steinen versteckte Garnelen, die mit ihren langen Fühlern nach uns tasteten. Ich beleuchtete einen Seestern mit der Taschenlampe, um seine rote Färbung zum Vorschein zu bringen. Als Jola den Kopf drehte und mich anlächelte, geschah etwas. Plötzlich merkte ich, dass ich sie gern im Arm hielt. Ich wollte sie nicht mehr loslassen. Ich wollte mit ihr dort unten bleiben und gemeinsam Seetiere betrachten, bis zum Jüngsten Tag. Jola spürte, wie sehr ich erschrak, und drängte sich dichter an mich. Sanft schob ich sie von mir und signalisierte, dass sie vor dem Aufstieg zurück auf ihr eigenes Atemgerät wechseln würde. Der Tausch klappte problemlos. Wir lösten uns voneinander. Es fühlte sich an wie eine Amputation.
Als ich am Abend an die
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