Nullzeit
Menschen verlangte, dass er dem Normalfall entsprach. Zwar gehörte es zu meinem Job, dafür zu sorgen, dass niemand starb. Aber unter Wasser. An Land konnten sie sich die Köpfe einschlagen, das hatte ich ihnen selbst gesagt. Was sie über Wasser machten, ging mich nichts an. Raushalten. Ich spürte, wie ich ruhiger wurde.
Die Scheibenwischer kämpften hektisch gegen die Wassermassen. Das Licht der Scheinwerfer reichte keine fünfzig Meter weit. Am Straßenrand duckte sich ein triefnasser Fuchs. Er sah bedauernswert aus. Soweit ich weiß, gibt es keine Füchse auf der Insel.
Jolas Tagebuch, dritter Tag
Montag, 14. November. Zwei Uhr morgens.
Ich musste raus. Drinnen habe ich keine Luft mehr bekommen. Der Sturm hat den Himmel zerrissen, es regnet nicht mehr. Sieben Jahre ist es her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Das traditionelle Sommerfest auf dem Landsitz. Dreihundert Gäste, darunter die üblichen Gesichter der ersten deutschen Schauspielergarde. Papa wird Muskelkater kriegen vom vielen Ausbreiten der Arme, sein Lächeln reicht vom Ostflügel bis zum Westflügel. Er hat mir gerade die Rolle bei »Auf und Ab« besorgt, ich habe versprochen, mir Mühe zu geben. Die ersten Folgen habe ich mit Bravour absolviert, was ich für den Beginn einer glänzenden Karriere halte. Ich bin 23 und trage ein hochgeschlossenes Kleid mit Leopardenmuster. Die Blicke der anderen Schauspielerinnen kitzeln mich im Nacken. Noch heute kann ich spüren, wie schön ich an diesem Abend war.
Papa steht mit ausgebreiteten Armen auf der Bühne im Garten und sagt etwas von einem gefeierten Debüt. Ein Schriftsteller betritt die Bühne. Er ist kein schöner Mann. Ungelenk stellt er sich hinter das Rednerpult und verlagert das Gewicht von einer Seite zur anderen. Er liest vor. Sätze wie Nervengift. Ich stehe da und kann mich nicht mehr bewegen.
»Es gibt Tage, da möchte ich alle Fragen mit meinem eigenen Namen beantworten.«
»Ich spüre die Sterblichkeit im ganzen Körper.«
Bis heute liebe ich diese Sätze. Ganz egal, was für ein Arschloch ihr Verfasser ist.
Meine Begeisterung nimmt der Schriftsteller mit verzogener Miene entgegen. Er lehnt an einem Stehtisch, starrt auf die Tanzfläche und nimmt nicht teil. An gar nichts. Er ist zwölf Jahre älter als ich. Er erklärt mir, dass Schauspieler dumm sein müssen, damit in ihren hohlen Köpfen Platz für Rollenidentitäten ist. Dass Schauspieler grundsätzlich Schriftsteller bewundern, aus denen die Texte herauskommen, die sie täglich nachplappern. Ich tanze mit ein paar »AuA«-Kollegen, schlendere durch die Räume und immer wieder zum Schriftsteller an den Stehtisch zurück. Als wäre er ein Fixstern, auf dessen Umlaufbahn ich geraten bin. Als nächstes behauptet er, impotent zu sein, seit sein Verleger regelmäßig anruft und fragt, wie es mit dem neuen Manuskript vorangeht. Um zwei Uhr früh vögeln wir im Badezimmer meiner Eltern. Weil dabei ein Flakon zu Bruch geht, riechen wir den Rest des Abends nach Mamas Chanel No. 5.
Sieben Jahre später sitzen wir bei Hummer und einem Premier Cru aus Meursault zusammen, weinen über die böse Welt und träumen vom Auswandern. Weil ein Penthouse mit Dachterrasse in Berlin der totale Alptraum ist. Weil wir mit Schlapphut auf dem Kopf und Gartenerde unter den Fingernägeln viel glücklicher wären. Der alte Mann würde auf einer einfachen Holzbank sitzen, den Rücken an die sonnenwarme Hauswand gelehnt, und den ganzen Tag sinnieren. Ich würde Tonkrüge töpfern, aus denen er seinen Wein trinkt. Einmal pro Minute würden wir aufblicken und uns zulächeln. Wir wären von morgens bis abends nett zueinander. Er würde nie wieder versuchen, mich aus Spaß von einer Klippe zu stoßen.
Ich dachte, er will sich entschuldigen. Alles auf den Wein schieben. Sagen, dass er nicht wisse, was in ihn gefahren sei. Dass wir beide hätten draufgehen können. Ganz leise ist er an die Couch herangetreten. Ich liege mit geschlossenen Augen und genieße es, wie sein warmer Finger meine Wange streichelt. Er macht das so verdammt selten. Der Sturm rüttelt an den Fensterläden. Antje hat sie geschlossen, während wir unterwegs waren. Als ich die Augen öffne, ist es kein Finger, sondern sein Schwanz.
Was hätte Lotte getan? Als ich mich aufrichten will, hat er die Hände auf meinem Hals. Ich sage, dass er mich loslassen soll. Er versucht, sich in meinen Mund zu schieben. Ich beiße die Zähne zusammen. Er drückt mir auf den Kehlkopf. Meine Lippen
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