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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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durchs Weltall fahren zu sehen. Der Anblick erzeugte Lärm in der Brust. Plötzlich streckte Jola die Hand nach mir aus und zog mich zu sich heran. Wir gingen zu dritt, eng umschlungen. Jola hatte es warm und sicher in der Mitte, sie blickte abwechselnd zu uns auf. Ich spürte ihre Finger auf meiner Hüfte und konnte nicht vermeiden, dass mein Arm den von Theo berührte. Es war absurd und wunderschön.
    Dann klingelte mein Telefon. Ich wusste, dass es Antje war, die fragen wollte, wie der Abend verlaufen sei, wann wir nach Hause kämen und ob es für den nächsten Morgen noch Vorbereitungen zu treffen gebe. Es gehörte zu ihren Gewohnheiten, mich mehrmals am Tag anzurufen, gleichgültig, ob Abstimmungsbedarf bestand oder nicht. Normalerweise hatte ich nichts dagegen. Immerhin führten wir ein Unternehmen mit hohem logistischen Aufwand. In diesem Augenblick aber wirkte es wie eine absichtliche Störung. Ich ließ Jola los und lief ein Stück zurück, um Windschatten am verschlossenen Tor des Mirador zu suchen. Ich schrie ins Telefon, dass alles in Ordnung sei und wir bald losfahren würden. Was Antje sagte, konnte ich kaum verstehen.
    Als ich zurück auf die Straße trat, waren Theo und Jola verschwunden. Eine Weile lief ich hin und her und rief ihre Namen, kopflos wie ein Schaf, das seine Lämmer verloren hat. Dann blieb ich stehen und dachte nach. Im Mondschein überblickte ich die Steilkante auf eine Distanz von mehreren hundert Metern. Ich hatte höchstens zwei Minuten telefoniert, weit konnten sie also nicht sein. Das Gelände war in alle Richtungen flach und gut einsehbar. Bis auf den Abschnitt, den das Mirador verdeckte.
    Mit einem Satz sprang ich über die Straßenbegrenzung und folgte der Außenmauer des Mirador bis zum Rand der Klippe. Durch das verschlossene Gittertor am Ende der Mauer konnte man auf die Terrasse des Cafés schauen. An der Brüstung fotografierten bei Tag überforderte Schwaben mit Hightech-Ausrüstung ihre Ehefrauen, »aber doch nicht gegen die Sonne, Robert!«, im Hintergrund die überwältigende Aussicht auf die Nachbarinsel Graciosa.
    Ich sah sie sofort. Sie waren über das Gittertor geklettert und befanden sich auf der Terrasse. Genauer gesagt: auf der Brüstung der Terrasse. Sie gingen hintereinander, die Arme ausgebreitet wie Seiltänzer. Links von ihnen ein halber Kilometer freier Fall. Der auflandige Wind spielte seine üblichen Tricks, verstärkte den Druck, um dann plötzlich nachzulassen, so dass die Körper auf der Brüstung ins Taumeln gerieten. Ich verbot mir, übers Tor zu klettern und ihnen nachzulaufen; die Gefahr, sie zu erschrecken, war viel zu groß. Ich wagte nicht einmal zu rufen. Ich dachte an die Weinflaschen im Lobster’s . Meine Arme zitterten, ich hatte mich halb in die Höhe gezogen, beide Fäuste um die Metallstreben geklammert. Am Ende der Brüstung wurde Jola von Theo eingeholt. Er umfing sie mit beiden Armen. Erst dachte ich, sie küssten sich, dann erkannte ich, dass sie miteinander rangen. Ich hörte einen Schrei und begriff in derselben Sekunde, dass ich es selbst war, der schrie. Jola hörte mich. Ihr Körper wirbelte herum, riss Theo mit, einen Moment lang schien nicht klar, zu welcher Seite sie kippen würden. Dann landeten sie fast gleichzeitig auf dem Fliesenboden der Aussichtsplattform
    Ich wartete nicht, bis sie sich erhoben. Durch die Dunkelheit lief ich allein zurück zum Auto. Erst im Wagen fiel mir auf, dass ich völlig durchnässt war. Es hatte zu regnen begonnen, der Mond war verschwunden, das Hochplateau diagonal schraffiert wie von der Hand eines Zeichners. Ich verspürte große Lust, einfach loszufahren. Stattdessen saß ich reglos hinter dem Steuer, fror und starrte in den Regen, bis sich Jola und Theo rennend dem Auto näherten. Sie rissen die Seitentür auf und stiegen hinten ein. Ohne ein Wort startete ich den Motor.
    Während der Fahrt bemühte ich mich, nicht in den Rückspiegel zu schauen. Auf der Rückbank küssten sich Jola und Theo wie Verhungerte. Was ihre Hände taten, wollte ich nicht wissen. Ich starrte auf die Straße und überlegte, wie es weitergehen sollte. Der Nitrox-Kompressor in der Garage war noch nicht abbezahlt, und die Casa Raya brauchte dringend neue Fenster. Aber hatte ich es nötig, mich kaufen zu lassen? In der Regel musste ich mir um die Zuverlässigkeit meiner Tauchschüler wenig Sorgen machen. Der Atlantik flößte Respekt ein. Normalerweise. Allerdings, sagte ich mir, war doch das Letzte, was ich von einem

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