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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Verstand.
    Natürlich tat ich nichts dergleichen. Wir befanden uns auf zwanzig Metern Tiefe, es war ihr fünfzehnter Tauchgang und ich ihr Trainer, der die Verantwortung trug. Die Sepia hatte gelangweilt das Weite gesucht. Drei Schmetterlingsrochen schwebten in mittlerer Entfernung dicht am Boden vorbei. Theo wäre begeistert gewesen.
    Mein halbes Leben hatte ich mich für einen Menschen von geringer Liebeskraft gehalten. Manchmal betrachtete ich Antjes Gesicht und dachte, dass sie wirklich nett aussah. Dann freute ich mich, dass sie bei mir war. Diese kurzen Momente waren das Höchste der Gefühle. Eine Liebe hingegen, die ganze Familien ins Verderben stürzte, Kriege anzettelte oder den Liebeskranken in den Selbstmord trieb, kannte ich nur aus Filmen. Schon die Idee war mir fremd. Als fehlte mir das Organ, mit dem sich eine solche Liebe erzeugen ließ. Lange Zeit hatte ich deshalb geglaubt, mit mir stimme etwas nicht. Im Studium hatte ich viel Kraft in den Versuch investiert, mich zu verlieben. Das führte zu Sex. Aber ich war zu ehrlich, um Geilheit mit Liebe zu verwechseln.
    Eines Tages – ich lebte schon einige Jahre mit Antje zusammen – hörte ich den Werbeprofi Donald Draper in der Fernsehserie »Mad Men« zu einer Frau sagen: »Was du Liebe nennst, haben Typen wie ich erfunden, um Nylonstrümpfe zu verkaufen.« Fortan ging es mir besser. Fortan fühlte ich mich nicht mehr defizitär. Liebe hielt ich für eine Mischung aus sozialer Absprache und psychosomatischer Reaktion. Ich glaubte, dass Menschen wie Antje Liebe empfänden, weil man ihnen an jeder Ecke erzählte, das müsse so sein. Seit wir zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, sagte Antje »Ich liebe dich« zu mir. Endlich war ich in der Lage, mit »Ich dich auch« zu antworten. Ich hatte einfach beschlossen, das langjährige Funktionieren einer Kameradschaft »Liebe« zu nennen. Und war sogar relativ sicher, dass Antje und ich dasselbe meinten.
    Bis zu dem Augenblick, als ich am Grund des Atlantiks die statuenhafte, in Neopren verpackte Jola umarmte. Die sich an mich klammerte. Die mir eine Hand zwischen die Schenkel schob und zupackte, um mit Kraft die Barriere des Anzugs zu überwinden. Keine Spur von der mädchenhaften Schüchternheit, mit der Antje einmal die Woche meinen Nacken zu streicheln begann. Sie pflegte hinter mich zu treten, während ich auf der Couch oder am Computer saß, und mich mit bettelnden Berührungen an den Ohren zu kitzeln, bis ich ihre Handgelenke festhielt und sie küsste, aus reiner Selbstverteidigung. Beim Küssen schob sie nur die Zungenspitze zwischen die Zähne und leckte an meinen Lippen herum, statt richtig den Mund zu öffnen. Sie kicherte und ließ ihre Flip-Flops extra laut auf den Boden klatschen, während sie mir voraus ins Schlafzimmer lief. Sie wollte immer nur auf dem Rücken liegen, weil sie sonst nicht kommen konnte.
    Wegen Jola schien plötzlich festzustehen, dass ich Antje nur aufgrund meines fehlenden Glaubens an die Liebe noch nicht verlassen hatte. Antje war wie der praktische Schrank, den wir beim Einzug in die Residencia günstig gekauft hatten, ein Provisorium, das Jahre später immer noch am selben Platz stand, weil es sich als nützlich erwiesen hatte und keinen direkten Grund lieferte, es auszurangieren. Im Nichtliefern von Gründen war Antje eine Meisterin.
    Jola hingegen wollte ich so sehr, dass ich fast das Bewusstsein verlor. Selbst im kühlen Wasser des Atlantiks glaubte ich, die Wärme zu spüren, die von ihr ausging. Als wäre ihr Körper mit heißer Flüssigkeit gefüllt. Sie zog meinen Kopf zu sich heran und zeigte mit dem Daumen nach oben. Ich nickte, obwohl ich gar nicht aufsteigen wollte. In dieser Welt, die nicht für Menschen geschaffen war, gehörten wir zusammen.
    Als konservativer Taucher ließ ich mir für den Aufstieg acht Minuten Zeit. Ich half Jola, aus dem Wasser zu klettern, und bestand darauf, die Ausrüstung sofort mit zum Wagen zu nehmen. Hintereinander stiegen wir den steilen Weg über die Klippen hinauf. Der ablandige Wind hatte etwas aufgefrischt. Jola trug den roten Abdruck der Taucherbrille im Gesicht. Als wir den VW-Bus erreichten, presste sie mich gegen die Seitenwand und versuchte gleichzeitig, den Reißverschluss an meinem Rücken aufzuziehen. Ich schob sie von mir; es war unmöglich, auf diese Weise aus den Anzügen zu kommen. Nebeneinander schälten wir das Neopren vom Körper. In der Eile wäre Jola, auf einem Bein hüpfend, fast gestürzt. Dann war

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