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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Flasche Wein konnte Antje eine ganze Welt aus Deutungen errichten, dramatisch und schillernd wie ein Musical, und das Ergebnis anschließend mit der Realität verwechseln. Nur Frauen waren in der Lage, auf ihren Mann wütend zu sein, weil sie in der Nacht schlecht von ihm geträumt hatten.
    Dass Jola wegen Theo um Hilfe gebeten haben sollte, erschien mir ausgeschlossen. Was die Neigung zu gefährlichen Späßen betraf, war Jola nicht besser als er. Ich stand auf.
    »Okay«, sagte ich. »Schlaf gut.«
    Auch Antje sprang von der Couch.
    »Sie hat hinzugefügt: Sven würde dir niemals etwas tun.«
    Ich küsste sie auf die Stirn.
    »Schön, dass ihr euch gut versteht.«
    »Aber«, sagte Antje.
    Zu den angenehmen Dingen im Leben gehörte der Umstand, dass jeder ein Recht auf seine eigene Weltsicht besaß. Ich nahm meine Auffassung mit ins Bett: Dass morgen ein ganz normaler Tag sein würde, an dem ich mit zwei Kunden tauchen ging. Jenseits dieser Erkenntnis gab es nichts zu berücksichtigen.

Jolas Tagebuch, dritter Tag
    Montag, 14. November. Abends.
    Ich ersticke. Ich werde das Gefühl nicht los. Keine Luft zu kriegen. Es sitzt mir im Hals. Als wäre da etwas zurückgeblieben. Ein Pfropfen. Ein Krampf. Statt zu lernen, springe ich alle drei Minuten auf und laufe zum Fenster. Reiße es auf. Zwinge Luft in die Lungen. Sage mir: Das ist Sauerstoff! Dein Körper nimmt ihn sich, automatisch! Du wirst nicht sterben. Mein Herz rast, dass es weh tut. Ich versuche, mich zu beruhigen. Die Panik zu bezwingen. Langsam zu atmen, wie Sven es mir gezeigt hat. Wenn er hier wäre. Wenn er meine Hand nähme. Wenn er mir SEINELuft zum Atmen gäbe. Ich brauche einen Tauchlehrer an Land. Jemanden, der mir beibringt, an diesem beschissenen Leben nicht zu ersticken.
    Schon wenn der alte Mann, ein nasses Handtuch über der Schulter und diesen speziellen Ausdruck auf dem Gesicht, aus der Dusche kommt, spüre ich, wie mir die Luft ausgeht. Wie ich erkalte, während meine innere Stimme Parolen brüllt: Sei hart! Du kannst das aushalten! Es wird dich nicht umbringen! Denk an was anderes und halt still, dann geht es schneller vorbei!
    Der alte Mann legt mir eine Hand in den Nacken und fragt freundlich, ob ich wirklich nicht mitkommen will in das kleine Restaurant in Tinajo. Ich greife hektisch nach den Tauchbüchern. Eine dünne Verteidigungslinie. Sven kommt hinzu und schaut bestürzt, weil ich zu Hause bleiben will. Ich fixiere die Uhr an der Wand. Sie geht eine Stunde vor, damit die Feriengäste das deutsche Fernsehprogramm nicht verpassen.
    Theorie ist sinnlos. Mathematische Formeln und seitenlange Beschreibungen von Ausrüstungsgegenständen. Als könnte man sich theoretisch gegen die Praxis absichern. Als hätte die Welt nicht Mittel und Wege, uns in den Rücken zu fallen. Dazu das ständige Gerede vom »Buddy«. Sie müssen sich auf Ihren Buddy verlassen können. Trainieren Sie die Kommunikation mit Ihrem Buddy. Verhalten Sie sich stets so, dass Sie sich selbst und Ihren Buddy nicht gefährden. Schon von dem Begriff wird mir schlecht.
    Ich weiß, dass Theo mich liebt. Nicht nur, weil er es sagt. Ich sehe es in seinen Augen. Ich merke es an der Art, wie er mich in den Arm nimmt. Mich tröstet. Mich vor sich selbst zu beschützen versucht. Wie er sich Mühe gibt. Wie er sich ehrlich anstrengt, ein anderer zu sein. Oft genug fordere ich es heraus. Dann mach’s doch. Hau mir eine rein. Schieb mir deinen Schwanz in den Arsch. Kriegst ja keinen hoch, wenn du nicht den Vergewaltiger spielen darfst. Bis er mich am Hals packt und zum Schweigen bringt. Provozieren heißt, die Kontrolle zu behalten. Es gibt Situationen, in denen die größte Gnade darin besteht, wenigstens selbst schuld zu sein.
    Besitzen Menschen ein Gegenteil? Wenn ja, dann ist Sven das Gegenteil vom alten Mann. Sven achtet auf mich. Wie schnell er an der Riffkante bei mir war! Hat gemerkt, dass ich die Kontrolle verliere, bevor es mir selbst klar wurde. Sein Blick hinter der Taucherbrille. Die feste Überzeugung, mir helfen zu können. Wie er seine Ruhe auf mich übertrug! Er hätte mich nie mehr loslassen dürfen. Wir wären einfach unter Wasser geblieben, für immer.
    Gerade hat er mir eine SMS geschickt. »Wir denken an dich.« Ständig macht er sich Sorgen. Ich kenne sonst niemanden, der sich so viele Sorgen macht. Ich kann förmlich sehen, wie sich hinter seiner Stirn die Räder drehen. Grübelräder, Sorgenräder. Manchmal würde ich ihn gern in den Arm nehmen, bis er zu

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