Nullzeit
der Eifer zu höchster Konzentration. So viel Zuversicht kommt bei Menschen eigentlich gar nicht vor. Die kennen nur Tiere. Ich sehe ihm zu, ich spüre, wie seine Ruhe auch mich erfüllt. Ich höre auf zu kämpfen. Ich will nur noch bei ihm sein.
Heute hatte ich keine Angst. Das Wasser trug mich, es war wie langsames Fliegen. Sven wartete am Grund auf mich. Wir knieten voreinander wie Priester und Priesterin. Die Natur kennt nur eine Sorte Gottesdienst.
Im Jahr 1996 wurden die Neoselachii, welche die modernen Haie und die Rochen umfassen, nach morphologischen Merkmalen in zwei monophyletische Taxa gegliedert, die Galeomorphii und die Squalea. Die Haie wären demnach paraphyletisch und damit ein Formtaxon, die Rochen nur eine Untergruppe der squalomorphen Haie.
Das lese ich Theo vom iPhone vor, weil er schon wieder fragt, worüber ich lache.
Ich sage: Wir haben heute Rochen gesehen.
Er sagt: Ihr Glücklichen.
Etwas Lustigeres hätte er kaum antworten können. Wir Glücklichen, in der Tat! Ich muss mich zusammenreißen, sonst schöpft er Verdacht.
Wie Zeitlupenvögel glitten die Rochen durchs Wasser. Schenkten uns nicht die geringste Beachtung. Als wären wir gar nicht da. Svens Hände unter dem Tarierjacket auf meinen Brüsten. Wie hart er war, spürte ich durch den Tauchanzug. Der langsame Aufstieg war wohldosierte Qual. Mit jedem Meter, den wir uns der Oberfläche näherten, stieg die Anspannung. Verliebt in den Diving Instructor. Und wenn schon. Andere vögeln den Skilehrer oder Tennistrainer, weil man sie zu Hause wie Scheiße behandelt. Lotte Hass hat ihren Expeditionsleiter geheiratet. Auf dem Weg zum Auto rannten wir beinahe. Trotz der Ausrüstung. Wäre ich auf die Idee gekommen, mich zu verweigern, hätte er mich mit Gewalt genommen. Noch nie haben sich zwei Menschen schneller ihrer Tauchanzüge entledigt. Das Blech von Svens Auto war heiß unter den Händen. Er stand hinter mir und ging leicht in die Knie, um in mich eindringen zu können. Es hatte nichts Grobes. Er war sehr warm. Fast fragend stieß er mich. Die Ungeduld hatte uns fast in den Wahnsinn getrieben. Jetzt besaßen wir alle Zeit der Welt. Und wenn die Menschheit zur Schonung der Männer noch hundert Jahre behauptet, es komme nicht auf die Größe an: Sven ist in der Lage, mich auszufüllen. Das süße Gefühl sich ausbreitender Willenlosigkeit. Das Geräusch der Brandung, der leichte Wind, die schwarze Landschaft. Außer uns kein Lebewesen weit und breit. Als gäbe es Leben überhaupt nur noch im Meer, aus dem auch wir gerade gestiegen waren. Zwei Wassertiere, die an Land kommen, um die Paarung zu vollziehen. Wenn ich mit dem alten Mann schlafe, denke ich, selbst wenn es gut läuft, an etwas anderes. Sven fand den Rhythmus. Meine Knie wurden weich, er musste mich festhalten. Er kriegte nicht genug von meinen Brüsten. Immer wenn ich dachte, es lässt sich nicht mehr steigern, ging es noch weiter. Ich hörte mich alberne Sachen stammeln. Sven fing an, meinen Namen zu rufen. Als es soweit war, brach er förmlich über mir zusammen. Nie zuvor bin ich im Stehen gekommen.
Er ließ sich rücklings auf den steinigen Boden fallen und zog mich auf sich. Wir lagen gemeinsam im Dreck. Er drehte mein Haar zu Zöpfen und streichelte meinen Nacken. Er sagte: »Ich liebe dich, Jola.« Ich nahm es ihm nicht übel. Ich verstand, was er meinte. Es war ein Moment vollkommenen Friedens.
Theo fragt: Wieso habt ihr nur einen Tauchgang gemacht?
Ich sage: Ach, weißt du, ohne dich macht es nur halb so viel Spaß.
Er lacht: Kleine Heuchlerin.
Auf der Schotterpiste bis Mala hielt Sven mich im Arm, während er fuhr. Er fühlt sich auch angezogen gut an. Kurz bevor wir die Landstraße erreichten, setzten wir uns anständig hin. Jeder kennt jeden auf der Insel. Unser Schweigen war jetzt von anderer Qualität. Wir lächelten viel. Als er mich aussteigen ließ, sagte er: Bis morgen. Ich sagte: Grüß Antje. Er sagte: Mach ich. Das hieß: Alles, wirklich alles ist gut.
8
E s war wie ein Déjà-vu: Jola saß zur selben Zeit an derselben Stelle auf der Treppe der Casa und wartete auf mich. Allein. Ich fuhr den VW-Bus rückwärts aus der Einfahrt, stieg aus und sagte »Hallo«. Derselbe Fehler. Ich hätte hinter dem Steuer sitzen bleiben sollen. Als ich vor ihr stand, packte sie mich am Kragen und küsste mich auf den Mund.
»Morgen«, sagte sie.
Mit schnellem Blick prüfte ich, ob Antje oder Theo an eines der Fenster getreten waren, um uns zum Abschied zu winken.
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