Nullzeit
Gott sei Dank gab es keine Nachbarn. Der Sandplatz lag menschenleer, dekoriert vom geometrischen Muster der Morgenschatten.
»Steig ein«, sagte ich.
Ich hatte mich für Famara entschieden. Dort fiel der flache Sandboden nur langsam ab, so dass die Brandung Schwebeteilchen aufwirbelte und an den meisten Tagen die Sicht verdarb. Außer Seegrasweiden, Schwärmen von Goldstriemen und der alten Muräne Helena in ihrer immergleichen Felsspalte gab es ohnehin wenig zu sehen. Aber die Einstiegsstelle lag direkt am alten Hafen, so dass man sich mitten im Ort umziehen musste. Der beste Platz, um nicht miteinander allein zu sein.
Während der Fahrt redete ich ununterbrochen. Mund und Sprachhirn absolvierten ein Programm, das ich nicht in Auftrag gegeben hatte. Aus irgendeinem Grund verbreitete ich mich über das technische Tauchen, über den enormen Aufwand an Ausrüstung und Planung, den es brauchte, um läppische hundert Meter in die Tiefe zu kommen – hundert Meter, die man an Land in einer Minute zurücklegte, ohne es überhaupt zu bemerken. Ich erklärte das sagenhafte Missverhältnis zwischen Abstieg und Aufstieg am Beispiel meiner geplanten Wrack-Expedition. In wenigen Minuten würde ich abtauchen und anschließend nur zwanzig Minuten Zeit haben, um das Wrack zu besichtigen. Für den Aufstieg hingegen würde ich mehr als zwei Stunden benötigen, wenn ich mein Leben nicht gefährden wollte. Beim letzten Stopp musste ich eine volle Stunde in sechs Metern Tiefe verharren, Licht, Luft und den Rumpf des Tauchboots direkt über mir. An den Wasserdruck gefesselt durch die in meinem Körper gelöste Stickstoffmenge.
Jola, die in ihrem Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nur Nullzeittauchgänge durchführen und dabei möglicherweise nicht einmal richtig verstehen würde, was Nullzeit eigentlich war, sah aus dem Fenster. Sie trug einen olivgrünen Minirock. Es kostete Anstrengung, nicht daran zu denken, dass sie darunter rasiert war. Bernie kam uns in seinem Transit entgegen und grüßte. Ich hob die Hand, Jola tat es mir gleich. Als wären wir die Strecke schon tausendmal gemeinsam gefahren und hätten tausendmal gemeinsam Bernie gegrüßt. Bei nächster Gelegenheit würde er mich nach ihr fragen.
Wir parkten in einer Seitengasse. Zwei alte Fischer unterbrachen ihr Schachspiel. Eine Spanierin trat aus dem Haus und kippte uns einen Eimer Putzwasser vor die Füße. Im Hof döste ein Schäferhund unter einem aufgebockten Ruderboot. In unseren schwarzen Anzügen mit Flasche auf dem Rücken watschelten wir wie Außerirdische durch die ausgestorbenen Gassen. Zwischen den alten Fassaden staute sich schon am Morgen die Wärme. Jola bekam einen roten Kopf vor Anstrengung. Bevor wir ins Wasser gingen, versuchte sie, meine Hand zu nehmen. Ich schüttelte sie ab. Ich wusste nicht, was ich am schlimmsten fand: Dass es gestern überhaupt so weit gekommen war oder dass ich sie am Ende doch nicht gehabt hatte. Vermutlich die Kombination aus beidem.
Die Sicht war miserabel, das Meer warm wie Urin. Wir dümpelten auf maximal neun Metern Tiefe in der trüben Brühe. Nicht einmal die Muräne Helena war zu Hause. Es machte mich fassungslos, wie ich, und sei es auch nur für ein paar Augenblicke höchster Geilheit, auf die Idee verfallen war, in Jola doch noch meiner großen Liebe begegnet zu sein. Ich hatte kein Interesse an Ärger. Seit vierzehn Jahren beruhte mein Leben auf der weisen Entscheidung, mich aus fremden Angelegenheiten herauszuhalten. »Deutschland« war der Name eines Systems, in dem es nur darum ging, was wem gehörte und wer woran Schuld trug. Jola war Deutschland. Sie kam von dort und würde dorthin zurückkehren. Theo und sie hatten ein Stück Kriegsgebiet mit auf die Insel gebracht. Statt größtmöglichen Abstand zu wahren, hätte ich mich um ein Haar mitten hineingestürzt. Was passiert war, ließ sich nicht rückgängig machen. Aber es war möglich, nach einem Schlenker die Spur zu halten.
Heute würde ich hinzufügen: Vorausgesetzt, man kann fahren. Scharf bremsen und das Steuer herumreißen ist niemals die richtige Strategie.
»Toller Tauchgang«, rief Jola, stolperte über die Flossen und fiel zurück ins flache Wasser.
Ich fragte, wie oft ich ihr noch erklären müsse, dass man mit Flossen rückwärts ging. Fügte hinzu, dass es außerdem auch für sie an der Zeit sei, das Tarieren zu lernen, statt weiterhin im Zick-Zack-Kurs durchs Wasser zu schlingern. Mangelndes Talent könne man niemandem vorwerfen. Es gehe
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