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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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hinter dem Steuer Platz.
    »Mir wäre es lieber, wenn wir nach Lahora zurückfahren könnten.«
    Sie lachte, als hätte ich einen guten Witz gemacht.
    »Sollte dir entfallen sein, wofür ich dich bezahle?« Das Lachen brach ab. »Komplettbetreuung. Twenty-four seven. Fahr los.«
    Es war acht Uhr am Abend, Antje saß vor dem Fernseher, ich am Computer, als die Türglocke ging. Normalerweise klingelte niemand bei uns. Am Ende der Welt kam man nicht zufällig vorbei. Wenn es doch einmal klingelte, war es eine von Antjes spanischen Freundinnen, die sie zum Shoppen abholte oder ein gehäutetes Kaninchen vorbeibrachte. Für mich stellte die Klingel keinen Schlüsselreiz dar. Ich hob normalerweise nicht einmal den Kopf. Es war purer Instinkt, der mich diesmal »Bleib sitzen« sagen und zur Tür gehen ließ.
    Draußen stand Theo in der Dunkelheit und sah nicht aus, als wäre er herübergekommen, um sich ein Pfund Mehl zu leihen. Er trug Anzughose, keine Schuhe und ein schief zugeknöpftes Hemd. Augen und Nase waren gerötet. Er roch nach Alkohol. Ich trat aus dem Haus und schloss die Tür hinter mir.
    »Herzlichen Glückwunsch!« Er klang verschnupft. »Meine volle Gratulation.«
    »Theo«, sagte ich. »Geht’s besser?«
    »Wer hätte gedacht, dass es so schnell passiert, was?«
    Er lachte.
    »Wer ist da?«, rief Antje von drinnen.
    »Das ist nur Theo!«, rief ich durch die geschlossene Tür zurück.
    »Darf ich jetzt auch mal bei dir?« Er zeigte aufs Haus. Ich konnte nicht einschätzen, wie gut er drinnen zu hören war. Seine Stimmlage schwankte zwischen Flüstern und Johlen. »Deine kleine Antje möllern, meine ich.«
    Theo geriet ins Straucheln. Ich wich aus. Er bleckte die Zähne.
    »Du hast Schiss vor mir.«
    Unter Wasser fiel es mir leicht, in schwierigen Situationen Ruhe zu bewahren. Man konnte sogar sagen: Je kritischer die Lage, desto stabiler mein Nervenkostüm. Leider galt das nicht an Land. Ich verspürte eine wilde Lust, Theo zu schlagen. So wacklig, wie er auf den Beinen stand, hätte jedes Kind ihn umnieten können. Aber er war mein Kunde.
    »Schiss ist das Stichwort.« Er hielt sich ein Nasenloch zu und schneuzte. Der Rotz landete knapp neben der Fußmatte. »Hast wohl gedacht, ich steh’ nicht zu meinem Wort? Ich hab’ doch gesagt, dass du sie haben kannst. Ich bin nur hier, um was klarzustellen.« Er richtete einen Zeigefinger auf mich. »Du bist ein großer Schwanz, an dem ein Feigling hängt. Das bist du.« Langsam nickend ließ er die Bedeutung dieser Worte noch einmal Revue passieren.
    »Hör zu«, sagte ich, »wie wär’s, wenn wir uns morgen weiter unterhalten?«
    »Siehst du!« Er wurde lauter. »Jetzt hast du wieder Schiss. Dass deine Antje mich hört. Du bist ein Feigling, Sven. Ich bin extra gekommen, um dir das mitzuteilen.«
    »Das reicht jetzt.«
    »Auf einmal reicht es? Wenn du das Recht hast, meine Frau zu ficken, habe ich das Recht, dir ein paar Takte zu sagen.«
    »Ich habe deine Frau nicht gefickt.«
    »Ah!« Er stieß einen Schrei aus, der sich erst nach einigen Sekunden als Gelächter entpuppte. »Das ist so schwach, Sven! Du verdammter Schisser! Steh doch wenigstens dazu!«
    Plötzlich ging ein Leuchten über sein Gesicht. Seine Augen, sein Hemd, seine ganze Gestalt erstrahlte in warmem Licht. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Tür in meinem Rücken aufgegangen war.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Antje.
    Ich hasste das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Kontrolle war das Ziel allen menschlichen Strebens. Kontrollverlust bedeutete Tod. Ich spürte meine Stirn kalt werden.
    »Die Madame!«, rief Theo erfreut. »Guten Abend!«
    Antje sah mich fragend an. Wie stets versuchte sie sofort, Einverständnis mit mir herzustellen. Mein Körper tat mir den Gefallen, zuckte die Achseln und verzog den Mund zu einer ratlosen Grimasse.
    Theo wandte sich an Antje. »Dauert nicht lang.« Dann richtete er den Zeigefinger wieder auf mich. »Du tauchst nicht, weil du Fische toll findest. Du tauchst, weil du dich da unten sicher fühlst.«
    Seine Zunge schien sich zu lösen, er klang weniger betrunken. Ich fragte mich, ob er mir etwas vorspielte.
    »Du hältst dich für den Oberindividualisten. Für einen ganzen Kerl, der mutig genug war, um auszusteigen und das Spiel der Dummen und Schwachen nicht mehr mitzuspielen. Aber du bist nicht der Sonderfall. Du bist nicht einmal ausgestiegen. Du bist der überforderte Prototypus des überforderten 21. Jahrhunderts. Eine ganze Epoche der

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