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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Überforderung! Weißt du noch, wie das am Ende des letzten Jahrtausends aussah? Die große Chance, die große Freiheit. Alle wollten etwas daraus machen. Und dann plötzlich: Alles zu viel. Zu viel Welt, zu viel Information, zu viele Möglichkeiten. Alle gehen ins Exil, mein lieber Riesenschwanz. Ins Biedermeier, aufs Land, ins Hobby, in die Nostalgie oder eben auf die Insel. Ein allumfassendes Rückzugsgefecht, und du mitten drin.«
    Er wischte sich den Schweiß ab. Er hatte sich müde geredet. Nicht nur die Betrunkenheit, auch der Hass war gewichen. Eine Weile sah er mit zusammengekniffenen Augen in den Nachthimmel, als überlegte er, ob es sich lohne, seinen Vortrag zu Ende zu bringen.
    »Okay«, meinte er schließlich, »was ich sagen will, ist: Du kommst dran. Träum von deinem Privatplaneten, träum von der großen Unabhängigkeit. Eines Tages kommst du dran, genau wie alle anderen. Du wirst an meine Worte denken. Gute Nacht.«
    Damit drehte er sich um, lief den Kiesweg hinunter und schloss sorgfältig die Gartentür hinter sich. Wir sahen ihn den Sandplatz überqueren und in der Casa Raya verschwinden.
    »Was war das denn?«, fragte Antje.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    Sie zuckte mit den Schultern: »Wahrscheinlich Wick MediNait plus Nenads Rotwein.«
    »Von dir?«
    »Konnte ich wissen, dass er alles auf einmal trinkt?«
    Ich musste lachen. Es ging mir gut. Ich hatte nichts weiter getan, als dort zu stehen, und war trotzdem der Sieger. Genauer gesagt: gerade deswegen. Alles unter Kontrolle. Antje sah zu mir auf.
    »Warum nennt er dich Riesenschwanz?«
    Ich strich ihr kurz übers Haar. Wir gingen gemeinsam zurück ins Haus.

Jolas Tagebuch, fünfter Tag
    Mittwoch, 16. November. Abends.
    Ich wische mir gerade was Feuchtes vom Mund und gucke, ob es Blut ist, als das Handy klingelt. Hartmut der Große.
    Ich: Hallo, Papa. Er: Redet wie immer ohne Punkt und Komma. Manchmal frage ich mich, ob er es überhaupt mitkriegen würde, wenn er sich verwählt hätte. Niemand kann schöner Fragen stellen, ohne die Antwort wissen zu wollen. Bei Hartmut dem Großen ist »Wie geht’s, ach, das freut mich« ein einziger Satz. Irgendwann habe ich aufgehört, ihm immer nur zuhören zu wollen. Seitdem ist unsere Beziehung schwierig. Was ihm schätzungsweise noch gar nicht aufgefallen ist.
    Der alte Mann steht in der Ecke, massiert sich die Fingerknöchel und zittert. Ich zeige auf das Handy an meinem Ohr und forme lautlos »Hartmut« mit den Lippen.
    Hartmut redet von dem Ärger, den er mit seinem neuen Projekt hat, schimpft auf den WDR, die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, die lahmarschigen Drehbuchautoren, den jungen Regisseur, der schwachsinnig genug ist, sich für einen Künstler zu halten, und natürlich auf die zickige Hauptdarstellerin.
    Ich mache gelegentlich »hm-hm« und »na, so was«. Von Lotte habe ich Hartmut nichts erzählt. Wahrscheinlich könnte er mir die Rolle verschaffen. Sag doch was, Kindchen! Ein kleiner Anruf, ein bisschen Erpressung. Aber danach wäre Lotte tot. Nicht mehr meine Lotte. Da kann ich auch gleich irgendeinem Regisseur einen blasen, damit ich den Side-Kick in seiner neuen Komödie spielen darf.
    Immer noch die zickige Hauptdarstellerin. Wofür die sich hält. Was die sich einbildet. Was die glaubt, wer sie ist.
    Das wäre eine Frage für den alten Mann. »Sei!«, würde er brüllen. »Was die glaubt, wer sie sei!«
    Fast muss ich lachen. Diese Erleichterung, wenn er mir eine geknallt hat. Er denkt dann, ich lache ihn aus. Dass ich ihn nicht ernst nehme. Was ihn noch wütender macht. Dabei habe ich Angst. Der alte Mann hat meine Seele zerstört. Nur zerstörte Seelen lachen, wenn man sie schlägt. Ich sorge dafür, dass es regelmäßig passiert. Triebabfuhr in kleinen Portionen. Wenn es sich aufstaut, zertrümmert er mir eines Tages aus Versehen den Kopf. Am meisten Angst habe ich, wenn er mich nicht anrührt. So gesehen, ist heute ein guter Tag. Es blutet nicht einmal. Der alte Mann passt schon auf, dass man am nächsten Tag nichts sieht. Ausrasten ja, aber bitte mit System.
    Als Nächstes nimmt Hartmut die Familie aufs Korn. Mama hat schon wieder eine neue Haarfarbe. Das Botox bekommt ihr nicht. Am schlimmsten sind seine Witze: Da gesteh ich meiner Frau, dass ich sie am Vorabend betrogen habe. Sagt sie: Aber Hartmut, das war doch ich, die du genagelt hast.
    Wie lang ist es her, dass sein Geschwätz noch weh tat? Dass ich rufen wollte: Papa, du sprichst mit deiner Tochter! Die Frau,

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