Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
Vom Netzwerk:
über die du redest, ist meine Mutter! Ich glaube, bei mir sind die Jalousien schon runtergegangen, als ich »Jalousie« noch gar nicht buchstabieren konnte. Eine gute Vorbereitung auf den alten Mann. So trainiert der junge Mensch die Fähigkeiten, die er mit dreißig braucht. Vielleicht sollte ich mich bei Hartmut bedanken. Vielen Dank, Papa, dass du mir frühzeitig klar gemacht hast, wie scheiße die Menschen sind. Und dein Anruf kommt wirklich im richtigen Moment.
    Keine halbe Stunde ist es her, da stand der alte Mann plötzlich in der Tür, während ich auf dem Bett saß und schrieb.
    Ich will jetzt wissen, was du da schreibst und wieso du so blöd lachst.
    Verpiss dich.
    Gib her.
    Niemals.
    Gib her, oder ich brech dir alle Knochen.
    Nein – doch – nein – doch, wie im Kindergarten. Am Ende gewinnt, wer als Erstes gewalttätig wird. Theo riss ein paar Seiten aus dem Heft und warf den Rest auf den Boden. Ich rollte mich auf dem Bett zusammen, während er las. Endlos. Wie lang kann man brauchen, um zu kapieren, dass die eigene Freundin einen anderen gevögelt hat? Schließlich zerknüllte er die Seiten und ließ sie fallen. Das sei ja stellenweise ganz schön geschrieben. Ob ich jetzt Schriftstellerin werden wolle? Ich antwortete nicht. Ich wartete darauf, dass er mich packte. Stattdessen ging das Gejammer los. Dass ich ihm das nicht antun dürfe. Dass er mich liebe. Ob ich ihn umbringen wolle. Dass ich ihn nicht verlassen solle. Dass er doch wisse, wie schlecht er mich behandele, wie wenig er mich verdiene, wie oft er mich schon betrogen oder es wenigstens versucht habe – immerhin kann er sich daran noch erinnern. Dass es bei mir aber etwas ganz anderes wäre, weil er doch ohnehin ein schlechter Mensch sei, ein Teufel, ich hingegen ein Engel, sein Engel, unschuldig und rein. Er fing an zu trinken, während er redete, schluckte den Rest von gestern gleich aus der angebrochenen Flasche, zog den Korken aus einer neuen. Sein kleines Mädchen dürfe sich doch nicht von irgendeinem dahergelaufenen Tauchtrottel beschmutzen lassen, und wenn sein großer Schwanz mich noch so gut ausstopfe, dreckige Nutte, die ich sei!
    Und ich dachte: Schlag endlich zu. Warte nicht zu lang. Die Angst schnürte mich ein. Mein Gesicht zuckte unkontrolliert. Die innere Stimme brüllte: Reiß dich zusammen! Sei stark! Sei kalt! Er kann dir nichts tun! Deine Seele kriegt er nicht! – Aber meine Seele hat er längst, was mir bleibt, ist der Körper, und der lag schutzlos da, während der alte Mann sich aufputschte. Ob ich Stück Scheiße keinen Respekt im Leib habe, ausgerechnet mit so einer Insel-Lusche, einem Vollversager, der von zu Hause weggelaufen sei, um hier den Ober-Zampano zu spielen, ob er mir wirklich Respekt beibringen müsse, ob ich tatsächlich darum betteln würde, und ich schrie: Schlappschwanz!, und dann knallte er mir endlich eine, und das Telefon klingelte.
    Was Hartmut wohl sagen würde, wenn ich ihn unterbräche: Sorry, Papa, ich muss Schluss machen, Theo möchte mich noch vergewaltigen, bevor er zu betrunken dafür ist. Wahrscheinlich würde er genau das sagen, was er jetzt sagt, nämlich dass es ihn freut, wie gut es uns auf der Insel gefällt, dass er aber eigentlich gar nicht so viel Zeit zum Reden hat und aus einem bestimmten Grund anruft, nämlich um mir mitzuteilen, dass Bittmann mal wieder mit der Dorset unterwegs ist und irgendwann in den kommenden Tagen in Puerto Calero einlaufen wird, an Bord Bittmann himself , vermutlich zusammen mit dem üblichen Lumpenpack, bisschen Theater, bisschen Film, bisschen Literatur. Jedenfalls wird Bittmann nächste Woche auf der Dorset ein kleines Dinner veranstalten, und es wäre nicht schädlich, da hinzugehen, gar nicht schädlich, vor allem für eine wie mich.
    Hartmut legt auf. Ich mache weiter »Hm-hm« und »Na, so was«, bis der alte Mann mit seiner Flasche fertig ist. Dann sage ich »Okay, Papa, bis dann« und stecke das Telefon weg.
    Der alte Mann sitzt am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Das ist die Haltung, in der es ihm leidtut. Ob ich ihm noch einmal verzeihen könne. Ich habe völlig recht, ein Arschloch wie ihn mit einem anderen zu betrügen. Weil ich jemanden verdiene, der nett zu mir ist. Er streckt die Hand aus. Aber ich habe keine Lust zu kuscheln. Der alte Mann ist schon so voll, dass er es kaum schafft, die nächste Flasche zu öffnen. Warum spüre ich Trauer statt Schadenfreude, wenn ich ihn so sitzen sehe? Er wirkt so alt. Und einsam. Noch

Weitere Kostenlose Bücher