Nullzeit
ein paar Sätze aus seinem Roman, die ich auswendig kann: »Männer entwickeln Hass, wenn sie Mitleid empfinden sollten. Bei Frauen ist es umgekehrt.«
Heute nach dem Tauchen hat mich Sven gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, auf die Insel zu ziehen. Er meinte das ernst. Er hatte nachgedacht. Ehrliche Absichten von Kopf bis Fuß. Vernünftige Argumente wollte er nicht hören. Als könnte schon nächste Woche die Welt untergehen! Vor Eifer war sein Gesicht gerötet. Fast hätte ich gelacht. So verkorkst bin ich schon, dass ich aussteige, wenn es einer einfach nur gut mit mir meint. Sven drängte mich, noch einmal nach Mala zu fahren. Er konnte seine Hände kaum bei sich behalten. Ich bat ihn, mir Zeit zu lassen. Den Dingen eine Chance auf Entwicklung zu geben. Ich klang wie der Dalai Lama, er wie der junge Werther. Dabei ist er zehn Jahre älter als ich. Es wurde trotzdem noch ein schöner Nachmittag. Mittagessen in Teguise und Händchenhalten in den Kakteengärten. Mehr wie ein zufriedenes Ehepaar als wie frisch Verliebte. Der einsame alte Mann rückte weit hinter den Horizont.
Aber da sitzt er über den Tisch gebeugt. Antje scheint ihm die Flaschen zu bringen; der Nachschub geht ihm nicht aus. Solange er säuft und grübelt, lässt er mich in Ruhe. Vielleicht könnten sich Theo und Antje verlieben, und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute. Alle vier, Tür an Tür.
9
I ch konnte nicht schlafen. Theos Auftritt spukte mir im Kopf herum. Wie kam er dazu, mich feige zu nennen, weil ich Deutschland verlassen hatte? Feige waren doch Leute wie er, die das Spiel durchschaut hatten und trotzdem weiterspielten. Die passenden Sprüche meiner Kunden kannte ich zur Genüge. Sie schimpften auf die Leistungsgesellschaft und schickten ihre Kinder zum Chinesischunterricht. Lehnten Wachstumsideologien ab und gingen für die nächste Gehaltserhöhung auf die Straße. Warfen Managern Gier vor und suchten im Internet nach Aktienfonds mit den besten Renditeversprechen. Auf ihren nagelneuen Flachbildfernsehern schauten sie Talkshows zur Kapitalismuskritik. Alle fluchten, alle machten mit. Das kotzte mich an. Am Ende kamen nur kaputte Typen dabei heraus. Wie Theo. Dass er klug genug war, die Absurdität zu erkennen, machte die Sache noch schlimmer. Wenn er mich feige nannte, konnte das nur bedeuten, dass er mich in Wahrheit beneidete. Die andere Frage war, was Jola ihm erzählt hatte. Wahrscheinlich gar nichts. Wahrscheinlich war die Phantasie mit ihm durchgegangen. Das Beste würde sein, nichts zu unternehmen. Neunzig Prozent aller Probleme erledigten sich von selbst, wenn man Ruhe bewahrte.
Es war kurz nach Mitternacht. Ich stand auf, trank in der Küche ein Glas Wasser und aß Oliven und Käsewürfel direkt aus dem Kühlschrank. Beim Einschlafen würde das nicht helfen. Ich ging ins Arbeitszimmer. Emil saß auf der Tastatur und blickte mir entgegen. Als ich die Hand ausstreckte, betrat er meine Finger wie eine Treppe, kletterte übers Handgelenk in die Armbeuge und blieb dort sitzen. Im November wurden die Nächte ein wenig kühl. Ich besaß genug Körperwärme, um etwas davon abzugeben. Um Emil nicht zu stören, bediente ich den Computer mit einer Hand, öffnete die Homepage von »Auf und Ab« und suchte eine Weile, bis ich das Archiv gefunden hatte. »Tödliche Lügen« vom 16. April 2010. Vom Flur erklang das leise Rasseln von Pfoten auf Terrakottafliesen und ein Schnüffeln auf der Schwelle. Todd kam herein und wedelte begeistert, weil er mich gefunden hatte. Mit dem Fuß schob ich ihn zurück auf den Flur und schloss die Tür. Einen Spitzel konnte ich nicht gebrauchen.
Zwei Typen in einer Café-Kulisse. Der eine, zwanzig Jahre alt, trug Baseball-Mütze und Drei-Tage-Bart, was ihn sportlich und sympathisch machen sollte. Der andere, nicht viel älter, war ordentlich frisiert und im Anzug, was ihn sofort als Feind des Sympathischen auswies. Ich musste grinsen. Es war typisch: Eine Sendung, die von geldgierigen Trotteln produziert wurde, führte einen geldgierigen Trottel als Bösewicht vor. Der Kapitalismus denunzierte seine treuesten Diener.
Sie sprachen über das Café des Sympathischen, in das der Anzugträger investiert hatte, weshalb er jetzt seine Rendite sehen wollte, während der Sympathische noch etwas Zeit erbat, um den Laden in Gang zu bringen. Der Anzugträger setzte zu einer fiesen Drohung an, als eine blonde Tussi an den Tisch kam und ihr solariumbraunes Silikondekolleté über den
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