Nullzeit
bestand er darauf, an sämtlichen Tauchgängen teilzunehmen. Ich klärte ihn über die Risiken auf und verbot ihm die Nasentropfen. Er brauchte quälend lang für den Druckausgleich, schaffte es aber jedes Mal, die geplante Tiefe zu erreichen. Anscheinend hatte er beschlossen, Jola und mich auch zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel nicht mehr aus den Augen zu lassen. Wir schwebten zu dritt durch die flüssige Stille, wiesen uns gegenseitig auf Engelhaie, Rochen und Zackenbarsche hin. Fütterten Kraken mit Seeigeln, beobachteten Barrakudas bei der Jagd.
Über Wasser hingegen schien die Luft zwischen uns zu vibrieren. Als warteten wir alle drei darauf, dass etwas passierte. Und wir hatten Zuschauer. Es begann eines Nachmittags, als wir zusammen einkaufen gingen. Weil ich nicht gern mit Verkäuferinnen sprach, manövrierte ich Theo und Jola an Käse-, Fisch- und Fleischtheken vorbei. Auch um Obst und Gemüse, das man nicht selbst wiegen durfte, machte ich einen Bogen. Dann stand ich vor einem Regal mit Oliven in Gläsern und wartete, während Theo zwei Gänge weiter das Weinsortiment studierte und Jola bei den Kosmetikartikeln verschwunden war. Sie kam mit einer bunt bedruckten Packung zurück, hängte sich bei mir ein und hielt mir das Produkt unter die Nase.
»Wie findest du das?«
Ich sah das Foto einer aufgetakelten Frau mit weizenblonden Haaren und verstand nicht.
»Bleichmittel«, erklärte Jola. »Lotte ist blond. Wenn du wissen willst, wie jemand denkt, musst du die gleiche Frisur tragen.«
Ich versuchte, meinen Arm aus ihrem Griff zu befreien.
»Meinst du, das steht mir?« Sie schmiegte sich dichter an mich.
»Ich mag deine Haare«, sagte ich.
Jola lachte und küsste mich auf den Mund. Als ich ihre Zunge zwischen meinen Zähnen spürte, vergaß ich mich. Nur für einen kurzen Moment, in dem sich meine Augen schlossen und die Hände zugriffen. Ich glaubte zu fallen. Bis ich die Stimme meiner Kollegin Laura hörte.
»Dreht ihr eine Szene für ›Auf und Ab‹?«
Ich hätte mich ohrfeigen können. Der Supermarkt lag auf dem Weg zum Strand. Alle kauften hier ein. Laura sah aus, als hätte sie schon eine ganze Weile neben uns gestanden.
»Oder ist Mund-zu-Mund-Beatmung Teil der Ausbildung?« Das schien sie witzig zu finden.
Jola, die ich im Schreck von mir gestoßen hatte, lehnte am Olivenregal und zupfte mit aufreizender Überdeutlichkeit ihr T-Shirt zurecht. Überflüssigerweise hob ich eine Hand zum Gruß.
»Laura. Wie läuft’s denn so?«
»Das wollte ich auch gerade fragen«, sagte Theo. Er stand am anderen Ende des Gangs und starrte Jola an. »Warum kniest du dich nicht gleich hin und bläst ihm einen?«
»Würdest du gern zusehen?«, fragte Jola.
»Okay, tschüs dann«, sagte Laura und verschwand.
Panisch überlegte ich, wem alles sie von dieser Szene erzählen konnte. Gleichzeitig suchte ich nach Worten, um mich bei Theo zu entschuldigen. Er kam mir zuvor.
»Gib dir keine Mühe«, sagte er, ohne den Blick von Jola abzuwenden. »Wenn du nicht so verdammt selbstverliebt wärst, würdest du begreifen, dass du überhaupt nicht das Problem bist.«
Ich verzog mich zu den Zeitschriften. Als sie eine Viertelstunde später gemeinsam ihre Einkäufe aufs Kassenband luden, scherzten sie miteinander. Ich fragte mich, ob ich geträumt hatte.
Im Auto tauschten sie die Plätze. Auf der Dreierbank saß jetzt Jola in der Mitte, während sich Theo mit einer Schulter ans Fenster lehnte. Beim Reden legte mir Jola immer wieder die Hand auf Unterarm oder Knie. Erzählte ich vom Tauchen, lauschte sie ernst und stellte Fragen. Machte ich Witze, lachte sie laut. Am Abend kamen so viele SMS von ihr, dass ich das Telefon stumm schalten musste.
»Danke für den wundervollen Tag! Deine Freundin J.«
»Vermisse dich. Deine Freundin J.«
»Lotte und der Fischschwarm: Es war, als stünde ich einer großen Macht gegenüber, die mich mit tausend Augen betrachtete. – Schön, oder? Findet deine Freundin J.«
»Wollen wir runter zum Meer? Brandung, Mondschein, nur wir zwei? DFJ.«
Morgens ging es weiter, als ich noch auf der Couch lag: »Freu mich auf nachher. Deine Freundin J.«
Ich antwortete nicht. Ich versuchte, Jola auf Abstand zu halten. Trotzdem passierte es immer wieder, dass mich Bekannte mit ihr sahen. Ich fragte mich, ob es sein konnte, dass sie das absichtlich machte. Im Café Wunder Bar hatte sie sich gerade scherzhaft auf meinen Schoß gesetzt, als Bernie hereinkam. Am liebsten hätte ich sie sofort
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