Nullzeit
einmal hinwegkommen.
Jola sah mir beim Denken zu. Sie schien zu wissen, was in mir vorging. Ich lächelte. Sie lächelte. Ich lachte. Sie schüttelte den Kopf. Als könnte sie nicht recht glauben, was sie in meinen Gedanken las. Kommst du doch noch zur Besinnung, schien ihr Blick zu sagen. Immerhin hatte sie es tagelang bei mir versucht. Dass eine Frau ihres Formats bereit war, sich derart hartnäckig um einen Mann zu bemühen, grenzte an ein Wunder.
Meinen Helium-Vortrag hatte ich anscheinend mittendrin abgebrochen; irgendwie hingen die Boltzmann-Konstante und Charles’ Gesetzmäßigkeit noch in der Luft. Theo sah unzufrieden aus.
»Okay«, sagte ich. »Gehen wir tauchen.«
»Besitzt du einen Smoking?«, fragte mich Jola drei Stunden später im Auto. Ich verneinte.
»Dann müssen saubere Jeans und ein weißes Hemd genügen«, sagte sie. »Aber mit langen Ärmeln!«
Sie hatte nicht gefragt, ob ich irgendwohin mitkommen wollte.
»Das Dinner auf der Dorset «, erklärte Theo. »Aperitif ab sieben.«
Kurz überlegte ich, was Antje zum Abendessen plante, dann fiel mir ein, dass Antje weg war. Meine Abneigung gegen Partys spielte in diesem Fall keine Rolle. Samstag war Abreisetag. Langsam musste die verbleibende Zeit genutzt werden. Ich genoss es, den VW-Bus in einem Schwung durchs offene Tor auf mein Grundstück zu steuern.
»Kommst du noch mit rein?«, fragte ich möglichst beiläufig in Jolas Richtung. Theo lachte auf und verließ den Wagen. Jola streckte den Zeigefinger aus, stupste mir auf die Nase und stieg ebenfalls aus. Ihre Sporttasche schlenkernd, ging sie zur Casa Raya hinüber und verschwand im Haus.
Mit dem Rücken zu mir war Theo an unbestimmter Stelle stehen geblieben, zwischen Toreinfahrt und Sandplatz, etwa dort, wo sich in einem deutschen Dorf der Bürgersteig befand. Als er sich umdrehte, steckte eine Zigarette zwischen seinen Lippen. Ich sah, dass er weinte. Ein unheimliches Bild. Der 42-jährige Mann mit dem alten Gesicht, die brennende Zigarette, die Tränen. Wie aus einem der Filme, die Antje gefielen.
»Dass wir eines Tages so werden«, sagte Theo, »das haben wir uns nicht vorgestellt, als wir Kinder waren.«
Seine großspurige Rede von neulich klang mir noch in den Ohren: Ich dulde, dass du sie knallst. Nur hör endlich auf, es abzustreiten. Meine Mutter hätte gesagt: Du kannst es den Leuten nicht recht machen. In diesem Augenblick fand ich Theo abstoßend. Er rauchte und heulte nicht nur, er lächelte auch noch dabei.
»Stell dir vor«, sagte Theo. »Es hat ihr nichts ausgemacht, den ertrunkenen Schwimmer zu sehen. Fast wirkte es, als hätte sie Spaß daran.«
Er wischte sich mit der Zigarettenhand über das Gesicht. Mit der anderen machte er eine bedauernde Geste, als müsste er mir für irgendetwas Beileid bezeugen. Mit Überraschungseffekten kannte er sich aus, das musste man ihm lassen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, überquerte er den Sandplatz und betrat drüben die Casa Raya.
Jola trug ein silbrig-weißes Kleid, das, matt schillernd wie eine Flüssigkeit, auf die kleinste Bewegung reagierte. Die dunklen Haare hatte sie geflochten und zu einem Kranz um den Kopf gelegt. Sie war atemberaubend schön. Sie hatte dafür gesorgt, dass wir eine Viertelstunde zu spät kamen. Auf der Gangway nahm sie meinen Arm. An Bord verstummte das Gespräch. Theo ging hinter uns. Ich schämte mich für meine Jeans.
Niemals werde ich diesen Augenblick vergessen. Bittmann, millionenschwer und im Smoking, sah uns staunend entgegen, als stünde er auf einem Floß, während ich eine Luxusyacht heranmanövrierte. Wegen Jola stellten meine Jeans plötzlich kein Problem mehr dar. Sondern einen geschickten Schachzug.
Ein junges Mädchen im Herrenanzug und mit Zwanziger-Jahre-Frisur verteilte Aperol Sprizz als Aperitif. Meine Frage, was das sei, wurde zum Lacherfolg. Der Sänger einer ostdeutschen Band bestellte Bier. Zu meiner Linken stand ein junger Schwarzer in Turnschuhen und Kapuzenpulli, der unentwegt grinste. Ich fragte ihn, wie ihm die Insel gefalle. Er verstand weder Deutsch noch Englisch noch Spanisch. Ich konnte kein Französisch.
Wir standen auf dem Achterdeck im Kreis. Die Dorset strahlte Licht in alle Himmelsrichtungen. Dass hier etwas los war, musste noch in Marokko zu sehen sein. Ein paar Kinder, denen Bittmann die Besichtigung erlaubt hatte, rannten übers Deck. Am Kai standen die Eltern und wussten nicht, was sie mit ihrer Schaulust anfangen sollten. Wir betrachteten den
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