Nullzeit
Sternenhimmel oder das, was davon hinter dem Lichtsmog der Dorset zu sehen war, und sagten abwechselnd »grandios« und »sensationell«. Jola begrüßte einen hochgewachsenen Mann um die sechzig, der Jankowski hieß und von Bittmann als Deutschlands wichtigster Literaturkritiker vorgestellt wurde. Neben Theo stand eine Dame im bunten Umhang, laut Bittmann eine Star-Regisseurin vom Schauspielhaus Köln. Dann gab es noch einen berühmten Fotografen mit ungewaschenen Haaren und den bekannten ostdeutschen Sänger mit seinem Bier. Der schwarze Junge war ein Künstler aus Burkina Faso, der Plastiktüten zu Collagen klebte und vor ein paar Wochen eine Ausstellung in einer Hamburger Galerie eröffnet hatte.
»Jola Pahlen und Theo Hast muss ich nicht vorstellen«, sagte Bittmann. »Und das ist …«
»Mein persönlicher Fitnesstrainer«, sagte Jola und prostete mir zu.
Ich fand das peinlich, also lachte ich mit.
»Schön, euch hier zu haben«, donnerte Bittmann, und alle Gläser trafen sich in der Mitte des Kreises. »Auf Kunst und Kultur!«
»Auf Kunst und Kultur!«, riefen die Gäste zu den Sternen hinauf, und ich begann zu ahnen, dass sie, gleichgültig, wie gut sie sich kannten und ob sie einander mochten, eine Art Bund teilten, zu dem ich nicht gehörte. Ich war seit Ewigkeiten nicht im Museum gewesen. Ich las keine Bücher, hörte keine Musik, sah selten Filme, ging nie ins Theater und ertrug nicht einmal die Hinterlassenschaften des Inselkünstlers. Mir kam es vor, als verlangten diese Dinge von mir, dass ich mich klein machte und den Kopf möglichst weit in den Nacken legte.
Kunst ist immer da, wo du nicht bist, hatte Antje einmal zu mir gesagt und es als Vorwurf gemeint. Ich hatte es als Kompliment aufgefasst. Vielleicht war es so, dass man entweder die Natur oder die Kunst lieben konnte. Die Natur brauchte keine Betrachter. Sie funktionierte in jeder Hinsicht von selbst. Ich entnahm dem Tablett des Zwanziger-Jahre-Mädchens ein weiteres Glas Aperol.
»Ich hätte Sie jetzt gar nicht erkannt«, sagte Jankowski zu Theo. »Das Foto auf Ihrem Buch ist wohl schon etwas älter.«
»So alt wie das Buch«, sagte Jola mit bezauberndem Lächeln.
»Wann lesen wir etwas Neues von Ihnen?«, fragte Jankowski.
»Ich arbeite an einem größeren Projekt«, sagte Theo. »Ein Gesellschaftsroman, der …«
»Toll«, sagte Jankowski.
»Er schreibt Kurzgeschichten«, warf ich ein.
»Touché!«, rief Jola und drückte meine Hand. Jankowski lachte.
»Kurzgeschichten«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Na, dann.«
Ich sah, wie Theos Kiefermuskeln arbeiteten, verstand nicht ganz, was ich richtig gemacht hatte, und leerte mein Glas. Bittmann scheuchte die Kinder von Bord und bat zu Tisch.
An der Treppe nach unten ließ ich Jola den Vortritt, mit einer eleganten Selbstverständlichkeit, die mich selbst überraschte. Antje gehörte zu den Frauen, die genervt reagierten, wenn man ihnen die Tür aufhielt. Jola neigte den Kopf wie eine Königin, raffte das Kleid und stieg die steilen Stufen hinunter. Unter dem anschmiegsamen Stoff arbeitete die Muskulatur ihrer Oberschenkel. Sportlerbeine. Von oben blickte ich auf ihre kunstvoll geflochtene Frisur. Der Impuls, einfach umzukehren und nach Hause zu laufen, wurde fast übermächtig. Hinter mir drängten die anderen Gäste auf die Treppe. Alles ist Wille, dachte ich. Ohne zu wissen, was ich damit meinte. Einer nach dem anderen stiegen wir in den Bauch der Dorset hinunter.
Unten erwartete uns die Vergangenheit. Die Restauratoren hatten das Innere der Dorset originalgetreu in den Zustand von 1920 versetzt. Die Wände in Kirschbaumholz getäfelt. Sessel und Stühle mit cremefarbenem Leder bezogen. Jede Türklinke, jedes Wandlämpchen, jeder Schubladengriff aus poliertem Messing. An der Decke ein großes Oberlicht, in dem sich die Kerzen des Esstischs spiegelten. Über dem Sideboard ein Ölgemälde der Big Five: Die fünf größten Rennkutter der Zwanziger in Regattafahrt, die Dorset mitten unter ihnen. Shamrock, Westward, Britannia – der Name des fünften Schoners fiel mir nicht ein. Mit Sicherheit hätte Jola ihn sofort gewusst.
Das Zwanziger-Jahre-Mädchen hatte sich verdoppelt. Zu zweit gingen sie umher und verteilten Moët & Chandon, wobei sie sich zwischen den Gästen hindurchschlängeln mussten. Die Anwesenheit von neun stehenden Personen zeigte, wie klein der Salon tatsächlich war. Wir bildeten eine Miniaturfestgesellschaft in einem Miniaturfestsaal. Der Geräuschpegel
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