Nullzeit
friedlicher als sonst, als wäre es mit seinen Gedanken woanders. Irgendwie beruhigt mich die demonstrative Gleichgültigkeit der Elemente. Mach doch, was du willst, sagen Himmel, Felsen und Ozean. Ist uns doch egal. Was glaubst du, wie viele schon an unseren Rändern saßen und sich für etwas Besonderes hielten. Stört uns nicht. Ihr krabbelt herum und macht viel Geschrei, und dann seid ihr weg, einer nach dem anderen. Von euren Katastrophen bleibt nichts zurück, während bei den unsrigen immerhin ab und zu eine Insel abfällt. Das ist doch was, wenn auch nicht viel, denn letztlich: Wen interessiert eine Insel?
Angesichts von so viel Gleichgültigkeit ist es das Klügste, sich einfach zu freuen. Glücklich zu sein. Sven und ich sind jetzt ein Paar. Was das genau bedeutet, wird sich schon zeigen.
16
D ienstag, 22. 11. 2011. Ein Tag aus Einsen und Zweien. Wind aus Nordnordost bei nicht mehr als 12 Stundenkilometern. Erwartete Tageshöchsttemperatur: 24 Grad.
Ein typischer Novembermorgen also. Ich stand in Boxershorts mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse und dachte an klamme Kälte und den Geruch von verfaultem Kohl. An Bodennebel, der sich bis Mittag auf den Feldern hielt. Der feucht unter die Jacke kroch und beim Gehen die Haut an den Oberschenkeln taub werden ließ. Ich dachte an Tage, an denen die Sonne unterging, bevor es richtig hell geworden war. Kein Wind, kein Meer, kein Himmel. Taube Stille und dahinter das Brausen der Autobahn. Die Silhouetten entblätterter Apfelbäume, an denen noch ein paar runzlig-braune Früchte hingen. Die Silhouetten meiner Eltern, Hand in Hand, Mutter größer als Vater mithilfe von Schuhen und Frisur. Auf Kniehöhe etwas, das sich stets bewegte und niemals fror: Todd der Erste, schier überwältigt vom Glück eines Familienspaziergangs. »Kalt, aber schön«, pflegte meine Mutter zu sagen. Irgendwo in diesem Nebel gab es auch Antje, noch nicht höher als ein Zaunpfahl und mit leuchtend blondem Haar. Es gab die Erinnerung an den Sommer, das klare Wissen um den Herbst, die Aussicht auf einen nassen Winter sowie die abstrakte Hoffnung auf einen noch viel zu fernen Frühling. Es gab das Jahr und die Zeit. Hätte mir vor vierzehn Jahren jemand gesagt, dass ich auf der Insel ausgerechnet das schlechte Wetter im Rheintal vermissen würde – ich hätte ihn für verrückt erklärt.
An diesem Morgen stand ich mit meinem Kaffee im lauen Wind und sehnte mich nach drei Grad unter Null. Nach Dampf über der Tasse. Nach der Möglichkeit, einen Pullover anzuziehen. Ich hatte wunderbar geschlafen im großen Bett, tief und traumlos, ein Schlaf, der die Seele abbeizte und einen Neuanfang versprach. Beim Aufwachen hatte mich die Ruhe im Haus, ohne Radio, Geschirrgeklapper und Hundepfoten, an den Winter erinnert.
Zweimal im Jahr flog Antje allein nach Deutschland, um ihre Familie zu besuchen. Für mich waren das Ferien, selbst wenn ich arbeiten musste und abends das lästige Auswaschen der Tauchanzüge an mir hängen blieb. Nicht, dass mich ihre Anwesenheit normalerweise gequält hätte. Aber ihre Abwesenheit eröffnete Räume. Ich dehnte mich aus. Dachte viel nach, ohne später zu wissen, worum es gegangen war. Bis ich mich nach einer Woche ausgedehnt und ausgedacht hatte und mich freute, dass wieder Leben in die Bude kam.
In der Casa Raya ging das Licht an. Ich sah Theo ins Wohnzimmer taumeln und vor der Küchenzeile stehen bleiben, als könnte er sich nicht erinnern, wozu die Geräte dienten. Dann füllte er Wasser in die Espressokanne und schob sie auf den Herd. Am Kühlschrank trank er aus einer Flasche. Ob Saft oder Wein, konnte ich nicht erkennen. Eigentlich bekommt man auf der Insel keinen Saft in Flaschen. Mit der Rechten kratzte er sich am Kopf, die Linke schob er hinten in die Pyjamahose. Er löffelte etwas, vielleicht Oliven oder Kaviar. Das leere Glas ließ er fallen. Er schenkte Kaffee ein, probierte aus der Milchtüte und spuckte sofort in die Spüle. Hatte Antje ihnen nicht gesagt, dass man auf der Insel nur H-Milch kaufen durfte? Alles andere wurde selbst im Kühlschrank sofort schlecht. Den schwarzen Kaffee trug er ins Badezimmer.
Wenn ich mir die Zukunft vorstellte, ergab sich ein widersprüchliches Bild. Ich glaubte fest, dass Antje zurückkommen würde. Immerhin wohnte sie hier. Sie war noch nie länger als eine Woche fort gewesen. Länger konnte ich die Tauchschule nicht ohne sie führen. Sie war sicher bei einer Freundin untergekommen und würde das
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