Nullzeit
stieg. Gläser klirrten. Der Sekt schmeckte ausgezeichnet. Die Mädchen schenkten nach. Beim Lachen hielt sich Jola an meinem Unterarm fest, den ich angewinkelt trug wie ein Kellner. Die Wärme im Raum schien von ihrem Körper auszugehen. Bittmann forderte uns auf, endlich Platz zu nehmen. Freie Platzwahl. Wir setzten uns. Jola rechts von mir, linker Hand noch immer der schwarze Franzose. Theo kam am hinteren Kopf der Tafel zu sitzen, weit weg von Jola, die jetzt mir gehörte. Genau das dachte ich: Sie gehört mir. Ich ließ mich zurücksinken, legte meinen Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls und lachte über einen Witz, den ich gar nicht mitbekommen hatte.
Carpaccio von Jakobsmuschel und Schwertfisch an Limetten-Tomaten-Marinade.
Der Fotograf brauchte kaum zwei Minuten für die Vorspeise. Er wischte sich Marinade vom Mund und sagte, dass sich die Schere zwischen arm und reich durch die Eurokrise weiter öffnen werde. Bittmann erzählte, dass der Riesling, den wir tranken, vom Weingut eines guten Freunds an der Mosel stamme, wo eine Koalition der Aufrechten standhaft gegen den Bau einer Brücke protestiere. Das Volk sei dabei, sich zu repolitisieren, warf die Star-Regisseurin ein. Jankowski fragte den Sänger, der seine Jakobsmuscheln mit Bier herunterspülte, warum es in der alten DDR so viele Nazis gebe. Der schwarze Junge unterhielt sich mit Jola auf Französisch, wobei sie sich von beiden Seiten über mich beugten, um einander besser zu verstehen. Die Star-Regisseurin berichtete von ihrem neuesten Stück, in dem Schauspieler, die sich wochenlang mit Nutten, Junkies und Obdachlosen unterhalten hatten, Nutten, Junkies und Obdachlose verkörperten. Sie redete schnell und gebrauchte häufig das Wort »Authentizität«. Als ich fragte, wer das Stück geschrieben habe und wovon es handele, bekam Jankowski einen Lachanfall. Er schlug die flache Hand auf den Tisch und rief: »Sie sind unbezahlbar, Sven!« Jankowski hatte mich von Anfang an gemocht. Die Antwort der Regisseurin ging im allgemeinen Getöse unter. Theo blickte mich quer über den Tisch auf eine Art an, die ich nicht deuten konnte. Der Abend lief immer besser. Aus Jolas Mund klang Französisch wie ein Lied ohne Anfang und Ende.
Schwarze Bandnudeln in Hummersauce.
Der Fotograf hatte Saucenspritzer auf dem Hemd und sagte, dass der Kapitalismus seit der Finanzkrise endgültig am Ende sei. Der Sänger erzählte, dass seine Band schon seit der Wende Projekte gegen Rechtsextremismus unterstütze. Jankowski nickte zerstreut, während er Bittmann zuhörte, der die Realwirtschaft lobte.
»Ach, Lars«, rief die Regisseurin, die ein wenig ins Abseits geraten war, »es ist so wunderbar, wie du das immer wieder schaffst!« Sie meinte nicht steigende Umsatzzahlen, sondern irgendetwas mit Diskurs und der Verbindung von Kultur und Politik. Mit lauter Stimme rief Theo, Finanzwirtschaft sei die Metaphysik der Pokerspieler. Unermüdlich umkreisten die Zwillingsmädchen den Tisch, Rieslingflaschen im Arm. Die Haarwellen an ihren Schläfen hatten sich keinen Zentimeter bewegt.
Riesengarnele im Tempura-Sesammantel frittiert auf Gurkenbett mit Papaya-Tatar.
Ich hörte nicht mehr richtig zu. Ich dachte an Deutschland, wo diese Menschen lebten, wenn sie nicht gerade vor Afrika segelten. Ich wusste, wie sie sich fühlten. Täglich standen sie vor der Aufgabe, ihre persönlichen Krisen zwischen Bankenkrise, Finanzkrise, Klimakrise, Energiekrise, Bildungskrise, Eurokrise, Rentenkrise und Nahostkrise unterzubringen. Abend für Abend setzte man ihnen um 20 Uhr für eine Viertelstunde den bevorstehenden Untergang des Abendlandes auseinander, gepaart mit der Unfähigkeit der Politiker, diesen zu verhindern. Währenddessen klammerten sie sich an die ganz private und ein bisschen peinliche Hoffnung, es möge am Ende trotzdem alles so bleiben, wie es ist. Weitermachen. Ihr ganzes Leben bestand nur aus Weitermachen. Ein großes Abhaken von Stunden, Tagen, Aufgaben. Obwohl ihnen die Zukunft als Erfüllungsort der Katastrophe erschien, kämpften sie sich zäh durch die Schützengräben der Gegenwart. Soldaten, die den Glauben an den Sieg verloren hatten und sich ausschließlich fürs eigene Überleben interessierten. Sie desertierten nicht, weil sie nicht wussten, wohin. In einer Welt ohne Unterschiede gab es kein Exil.
Ich schaute in die Runde. Es wurde immer wärmer. Alkohol und Kerzen heizten den kleinen Salon auf. Ich spürte meine Wangen glühen. Das Hemd klebte am Rücken. Ich
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