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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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erkannte die Angst hinter dem Papaya-Tatar. Alle Gesichter lachten, wie ich es von Jola kannte: mit zu weit geöffnetem Mund. Alle redeten wie Jola: mit großen Gesten, die Gläser und Kerzenhalter in Gefahr brachten. Eine Welle von Mitleid erfasste mich, wälzte mich um, floss ab und hinterließ ein sandiges Gefühl von Liebe zu den Menschen am Tisch.
    »Schade, dass man Wein nicht streicheln kann«, rief Theo. Er hatte mich die ganze Zeit beobachtet, während ich die anderen musterte. Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Er wirkte erstaunlich gelassen. Anscheinend ging er fest davon aus, Jola am Samstag mit zurück nach Deutschland zu nehmen. Ich spürte deutlich, dass ich das nicht zulassen durfte. Abwarten, dachte ich und prostete Theo zu. Auch er hob sein Glas und sandte mir ein kleines Nicken. Jola gab ihre Teller fast unberührt zurück, was niemand kommentierte.
    Selleriecremesuppe mit Lachsröllchen im Mangoldmantel.
    Der Abend verwandelte sich in ein Gemälde aus Licht, Hitze und Lärm. In meiner Erinnerung deckt laute Musik die Gespräche zu, etwas Klassisches, irgendeine Neunte von irgendwem, dabei bin ich gar nicht sicher, ob überhaupt welche spielte. Ich hielt die Zwillingsmädchen nicht davon ab, mein Glas nachzufüllen. Jolas Nähe berauschte mich. Immer wieder griff sie nach mir, legte ihre Hand auf meine Schulter, auf meinen Arm, auf meinen Oberschenkel. Sie lehnte sich an mich, ich roch ihr Haar. Sie flüsterte mir ins Ohr, ich spürte ihren Atem. Ihre Lippen spröde, eine dunkelrote Schicht vom Wein. Die Augen umschattet von verwischter Tusche. Sie grub die Finger in mein Hemd, während sie lachte. Schade, dachte ich, dass man eine Frau nicht trinken kann. In diesen Minuten glaubte ich, nie zuvor einen Menschen so sehr geliebt zu haben. Auch mein Mitleid mit den anderen am Tisch speiste sich aus dem Überfluss meiner Liebe zu Jola. Der ostdeutsche Sänger und sein Glaube ans Bier, die schrille Einsamkeit der Regisseurin, Jankowskis tragisches Empfinden für die eigene Vergänglichkeit, der in sich selbst eingesperrte Afrikaner, Theos gespielte Gelassenheit, der Emporkömmling Bittmann mit seinen Eiweißriegeln – sie alle gemeinsam bildeten ein Überlaufbecken für meine Gefühle. Meine Zuneigung goss sich über sie, verschweißte sie zu einer Hochzeitsgesellschaft, die extra den weiten Weg aus Deutschland gekommen war, um meine Vermählung mit Jola zu feiern. Erst die Anwesenheit dieser Leute machte uns zum Paar, wofür ich ihnen Dank schuldete. Sie alle rührten mich zu Tränen. Jola und ich rührten mich zu Tränen, jeder für sich und beide gemeinsam. Ich legte den Arm um sie und drückte sie an mich, was sie weich geschehen ließ. Seit den Riesengarnelen verbarg ich eine halbe Erektion unter dem Tischtuch, die auf den Duft von Jolas Parfum reagierte. Ich wusste, was bevorstand. Ich sah Jola in meinem Bett, in meiner Küche, vor meinem Computer, in meinem Wohnzimmer, sah Jola als Inselbürgerin in Flip-Flops und kurzen Hosen, wie sie mit Kunden sprach und mich beim Betrieb der Tauchschule unterstützte. Jola, die ich nebenbei zur Tauchlehrerin ausbildete. Jola, die sich Tag für Tag, Monat für Monat von Deutschland erholte, die leiser lachte, sparsamer gestikulierte und immer schöner wurde. Die ihren Beruf nicht aufgab, sondern nur reduzierte, so dass ich sie gelegentlich nach Deutschland begleitete, wo wir in einer Wohnung über den Dächern Berlins lebten und abends zu Veranstaltungen gingen. Sie in diesem schillernden Kleid, ich an ihrer Seite, genau wie heute Abend. Filmpremieren, Fernsehpreisverleihungen. Sie im Rampenlicht, ich der stille Beobachter. Die Menschen sahen mich von der Seite an. Wir wurden fotografiert. Ich lächelte und schwieg, ab und zu presste Jola meine Hand. Auf dem Rückweg im Flugzeug machte sie die Leute nach, denen wir begegnet waren, und wir lachten, bis sich die anderen Passagiere über uns beschwerten. Jola trug eine riesige Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden, und sagte nach der Landung leise: »Willkommen zu Hause«. Eines Morgens würde sie mir Kaffee ans Bett bringen, mich lange ansehen und sagen, dass sie ein Kind erwarte. Sogar das konnte ich mir vorstellen.
    Terrine von verschiedenen Fischen im Oktopusmantel auf sautierten Zuckerschoten.
    Ich schreckte aus meinen Gedanken. Irgendetwas hatte sich verändert, das Licht, die Geräuschkulisse, das Aussehen der Gäste. Anscheinend befand ich mich in einem Zustand höchster Sensibilität, in dem

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