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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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während draußen einer um sein Leben kämpft. Krass und brutal. Keine Kitschgefahr. Wenn einer stirbt, ist das immer Kunst.
    Eine Stunde später stehen wir auf der Promenade, etwas abseits von den anderen Schaulustigen. Wir beobachten, wie der Körper des Schwimmers auf einer Bahre zum Hubschrauber getragen wird. Viel ist nicht zu sehen. Sie haben ihn komplett mit einer Plane abgedeckt. Wir erkennen nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es macht mir nichts aus, die verpackte Leiche zu sehen. Ich weine auch nicht auf Beerdigungen. Oma, Opa, Onkel Lukas, Tante Miriam – Familie Pahlen ist vielköpfig und versoffen. Mir war es immer egal. Wozu das Gewese, wenn doch allgemein bekannt ist, dass wir sterben? Beim Tod tun alle so, als gäbe es ihn nicht. Bei der Liebe ist es umgekehrt.
    Aber als der Hubschrauber abhebt, die Touristen die Köpfe einziehen und der alte Mann mich an sich drückt, weiß ich plötzlich, was ich zu tun habe. Anscheinend musste ich herkommen, um das zu begreifen. Sven kennenlernen. Jemanden ertrinken sehen. Man hat nur ein Leben. Sagt Papa immer und meint damit nur, dass man beim Geldverdienen auf niemanden Rücksicht nehmen soll. Ich sehe dem Hubschrauber nach und beschließe, mein Leben ohne Theo weiterzuführen. Weil ich das allein nicht schaffe, wird Sven mir dabei helfen. Nur noch vier Tage. Die Verhältnisse müssen sich klären, bevor der Urlaub zu Ende ist. Ich muss Sven zu einer Entscheidung zwingen. Ich muss ihm erzählen, was der alte Mann mit mir anstellt. Dann wird sich zeigen, ob Sven es ernst mit mir meint.
    Theo will noch ins Pub, ich nehme ein Taxi. Antjes Auto steht nicht vor dem Haus. Das ist ein Zeichen. Ich klingele sofort an der Residencia. Sven macht auf und zieht mich in seine Arme. Ich wehre ihn ab. Ich will reden, möglichst schnell, bevor ich es mir anders überlege.
    Auf dem Couchtisch liegen ein paar knittrige Seiten. Das Druckbild erkenne ich sofort: Theos alte Reiseschreibmaschine. Er hat sie dabei, falls es ihn im Urlaub mal überkommt. Das Teil ist höllisch laut. Er muss es benutzt haben, als ich allein beim Tauchen war. Heimlich. Während er mir ständig etwas von Schreibkrise erzählt. Bestimmt geht es in der Geschichte um mich. Der alte Mann schreibt gern über Frauen. Er nennt sie Lola, Nora oder Josa, beleuchtet die finsteren Folterkammern ihrer Seelen und beschreibt genussvoll, wie sie ihre männlichen Opfer vernichten. Wahrscheinlich hat er die Story extra für Sven geschrieben. »Damit du weißt, worauf du dich einlässt«, könnte der Titel lauten. Aber der Text scheint seine Wirkung verfehlt zu haben. Sven redet noch mit mir. Besser gesagt, er hört zu. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Tränen laufen mir über das Gesicht. Der Druck muss enorm gewesen sein. Es ist das erste Mal, dass ich jemandem davon erzähle. Häufig fehlen mir die Vokabeln. Sagt man Schwanz oder Penis, Möse oder Vagina, Arschloch oder Anus? Was ich erzähle, klingt jedenfalls grauenvoll. Es erschreckt mich selbst. Als erlebte ich es jetzt, während ich darüber spreche, zum ersten Mal wirklich. Als würde alles erst vor Svens Ohren unverbrüchliche Realität.
    Sven sagt: Alles wird gut. Und danach: Das Schwein bring ich um. Ich frage mich, ob das eine die Folge des anderen wäre. Natürlich wird er Theo nicht töten. Das wissen wir beide. Ich sitze auf Svens Schoß, und er hält mich fest, wiegt mich, küsst mich, beschützt mich, baut mich wieder zusammen. Dann kommt Antje herein. Sven versucht gar nicht erst, sich zu verteidigen. Wahrscheinlich hatte er sich längst entschieden. Brauchte nur einen letzten Anstoß, genau wie ich.
    Während Antje redet, gehe ich. Nicht, weil es mir unangenehm ist, sondern aus Respekt. Höre später den Hund und wie Antjes Auto davonfährt. Ich bleibe trotzdem am Tisch sitzen und starre weiter in die Dunkelheit. Spüre, dass es besser ist, Sven in dieser Nacht allein zu lassen, auch wenn alles in mir nach ihm schreit. Der alte Mann kommt nach Hause und fällt sofort ins Bett. Den Rest der Nacht verbringe ich am Meer.
    Jetzt schaue ich in den rosafarbenen Himmel und frage mich, ob das Zukunft ist oder Verarschung. In einer halben Stunde wird Sven den VW-Bus auf den Sandplatz fahren und sein fröhliches »Guten Morgen« schmettern, als wäre jeder Morgen ein guter Morgen. Und dieser ganz besonders. Der alte Mann hat nicht nach mir gesucht, vielleicht ist er im Schlaf gestorben, um uns allen einen Gefallen zu tun. Das Meer ist

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