Nullzeit
kaum älter als zwanzig. Er dürfte heute also Anfang Fünfzig sein, wenn er noch am Leben ist«, betonte Grelle. »Und das ist alles, was wir über dieses Gespenst wissen …«
»Petit-Louis dürfte gewußt haben, wie er aussah«, bemerkte Boisseau.
Im Herbst 1944 nahmen die Dinge eine ernstere Wendung. Um die Zeit der zweiten Landung der Alliierten - im August im Süden Frankreichs - stand der Süden für kurze Zeit fast völlig unter der Kontrolle der Résistance. Dies war eine Periode, über die in späteren Jahren niemand viel sprach: Die Aussichten waren zu erschreckend gewesen. Dies war die Zeit gewesen, in der die Kommunisten im Süden Frankreichs um ein Haar eine Sowjetrepublik errichtet hätten.
Die Pläne lagen bereits in den Schubladen. Das Signal für die Errichtung der République Soviétique du Sud sollte die Einnahme der wichtigen Städte Limoges und Montpellier durch die Kommunisten sein. Man hatte sich ausgerechnet, daß die Alliierten, die noch gegen den gemeinsamen Feind kämpften, die Sowjetrepublik akzeptieren würden, falls man sie vor eine vollendete Tatsache stellte. Der führende Kopf hinter diesem Plan war der Leopard persönlich. Nur das rasche und unerwartete Auftauchen de Gaulles im Süden vereitelte den Plan. Kurz darauf starb der Leopard.
Sein Tod war in der Akte sorgfältig dokumentiert. Er war am 14. September in einer Lyoner Straße von einem feindlichen Heckenschützen erschossen worden. Voller Trauer über den Tod ihres Anführers und in der Sorge, eine Bande von VichySchlägern könnte das Grab schänden, hatte ein kleiner Trupp von Kommunisten den Leichnam beiseite geschafft und mitten in einem Wald in aller Stille beigesetzt. Petit-Louis, der Stellvertreter des Leoparden, hatte der Beerdigung nicht beigewohnt. Kurz vor dem Ende der Akte waren in einem Anhang einige kleine Details festgehalten, die Grelle interessant fand. So war der Leopard auf Schritt und Tritt von einem riesigen und angriffslustigen Wolfshund namens César bewacht worden, der selbst zuverlässige Freunde auf Distanz hielt.
»Um sicherzustellen, daß ihnen sein Aussehen unbekannt blieb«, kommentierte Grelle. »Was mag wohl aus dem Hund geworden sein?«... Die deutsche Abwehr hatte offensichtlich auch eine detaillierte Akte über ihren mysteriösen Feind angelegt. Der Offizier, der sich dieser Aufgabe unterzogen hatte, war ein gewisser Dieter Wohl gewesen, der damals dreißig gewesen war. »Also müßte er jetzt in den Sechzigern sein«, meinte Grelle. »Ob er den Krieg überlebt hat?«
Der Schock traf Grelle erst, nachdem Boisseau zu seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Hause gegangen war. Am Ende der Akte fand Grelle einen mitgenommenen und abgegriffenen Umschlag, der ein Foto von Petit-Louis enthielt, dem Stellvertreter des Leoparden. Zunächst war Grelle seiner Sache nicht sicher. Er nahm den sepiafarbenen Abzug also zu seinem Schreibtisch hinüber und prüfte ihn unter der Lampe. Der Abzug war besser erhalten, als er befürchtet hatte. Ihn starrte ein Gesicht an, ein Gesicht, das vor mehr als dreißig Jahren auf den Film gebannt worden war. Das Alter verändert einen Mann, besonders, wenn sein Leben hart gewesen ist, aber wenn der Knochenbau kräftig ist, läßt die Zeit Merkmale, die immer da gewesen sind, mitunter nur noch deutlicher hervortreten. Das Gesicht von Petit-Louis war das Gesicht von Gaston Martin, des Mannes aus Guyana.
4
Zum zweitenmal innerhalb von zweiundsiebzig Stunden hatte David Nash den Atlantik überquert. Am Sonntagabend um 21.40 Uhr verließ er die Maschine des Pan-Am-Flugs 100 auf dem Flughafen Heathrow, nur zehn Tage vor Guy Florians Staatsbesuch in Moskau. Nash nahm ein Taxi zum Ritz, ließ seine Reisetasche im Hotelzimmer und ging zu Fuß zu Lennox’ Wohnung am St. James’ Place. Beim Eintreten überreichte er dem Engländer eine Flasche Moët & Chandon.
»Wenn die Griechen kommen und Geschenke tragen …«, begrüßte Lennox ihn zynisch und legte die Flasche in den Kühlschrank. »Die heben wir uns für später auf - ich nehme an, daß wir die halbe Nacht aufbleiben werden?«
»Das ist das mindeste«, versicherte ihm der Amerikaner. »Wir haben einen Stichtag im Nacken; von heute an sind es noch zehn Tage …«
»Sie haben einen Stichtag im Nacken«, korrigierte ihn Lennox. »Ich habe Sie schon am Telefon gewarnt - auf Ihre Art Job kann ich sehr gut verzichten …«
Sie sprachen bis drei Uhr morgens, wobei Nash zwei Schachteln Zigaretten
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