Nullzeit
gezeigt, als man ihn nach Istanbul geschickt hatte, um einen sowjetischen Dechiffrierbeamten zu töten, der einen unziemlichen Appetit auf amerikanische Dollars entwickelt hatte. Vanek hatte den Mann erdrosselt und ihn dann in dunkler Nacht von einem Balkon in den Bosporus geworfen.
Obwohl es ihm sehr gegen den Strich ging, mußte der Russe Borisov zugeben, daß die drei von Vanek geführten Tschechen ein ideales Mörderkommando bildeten. Und obwohl Borisov das nicht wissen konnte, waren die Anforderungen, die an den Leiter des Kommandos gestellt wurden, denen nicht unähnlich, die David Nash für den Mann festgelegt hatte, der nach Frankreich gehen sollte. Fließende Beherrschung des Französischen, Kenntnis Frankreichs, die Fähigkeit, als Franzose durchzugehen - und während Nash darauf bestanden hatte, daß es kein Amerikaner sein dürfe, hatten die drei Mitglieder des sowjetischen Politbüros, welche die Mission sanktioniert hatten, ihre eigene Bedingung gestellt: Die Männer des Kommandos dürfen keine Russen sein. Wenn etwas schiefging, durfte die Macht, die hinter dem Unternehmen stand, auf keinen Fall bloßgestellt werden.
»Wann zum Teufel fahren wir endlich los, um diesen Oberst Lasalle zu besuchen?« verlangte Vanek zu wissen.
»Bald«, erwiderte Borisov, »das Startzeichen wird bald kommen …«
An demselben Abend, an dem Alan Lennox in London den Anruf von David Nash erhielt, saß Marc Grelle gut dreihundert Kilometer entfernt in seiner Pariser Junggesellenwohnung auf der Ile St.-Louis und las in einer alten und verstaubten Akte. Es war die Akte über den Leoparden.
André Boisseau, der in der Rue Monge wohnte, verbrachte den ersten Teil des Abends bei dem Präfekten. Da er die Akte bereits kannte, verglichen sie ihre Notizen. Während des Zweiten Weltkriegs hatte jeder Angehörige der Résistance unter einem falschen Namen gearbeitet - um Familie und Freunde zu schützen. Normalerweise wurde ein beliebiger anderer französischer Nachname gewählt; mitunter war ein Mann unter einem falschen Vornamen bekannt; einige hohe Armeeoffiziere operierten unter geometrischen Begriffen, etwa ›Hypotenuse‹. Der Leopard war aber etwas anderes: Er hatte den Namen eines Raubtiers angenommen, um seine Sonderstellung zu betonen.
»Meiner Meinung nach deutet die Wahl dieses Namens auf ein unwahrscheinliches Selbstbewußtsein hin«, bemerkte Boisseau. »Einer von diesen Leuten, die sich einreden, sie seien vom Schicksal auserwählt …«
Der Leopard hatte zweifellos eine bemerkenswerte - wenn auch kurze - Karriere hinter sich gebracht. Mit Anfang Zwanzig - das war eine der wenigen Tatsachen über diese schattenhafte Gestalt, die gesichert war - hatte er im Massif Central eine der mächtigsten Résistance-Gruppen befehligt, die in den Departements Lozère und Haute-Loire operiert hatten. Von den übrigen Résistance-Führern unterschied er sich durch seine Brillanz und seine Unerbittlichkeit; an seiner Art, aus dem Nichts über den Feind herzufallen, ihn zu vernichten, und dann wieder zu verschwinden, war etwas fast Napoleonisches gewesen.
Der außerordentliche Erfolg des Leoparden hatte auf einem weitverzweigten Geheimdienstsystem beruht. Er hatte überall Agenten sitzen gehabt - bei der Polizei der Vichy-Regierung, in den Fernsprechämtern, wo Telefonistinnen sich in die Gespräche des Feindes einschalteten, bei der Bahn, wo Beamte über die Bewegungen von Munitions- und Truppentransporten berichteten, sowie in der Milice, einer Vichy-Organisation von Schlägern und Kollaborateuren. Er hatte sogar einige Leute in die deutsche Abwehr einschleusen können.
»Vielleicht sollten wir nach einem Experten für Abwehr- und Sicherheitsorganisationen Ausschau halten«, schlug Boisseau vor.
Der Präfekt grunzte und las weiter. Die dicke Akte schien endlos; es ging weiter mit Beschreibungen der Leistungen des Leoparden. Vertrackt war nur, daß sich kaum ein Hinweis auf sein Aussehen fand. Dafür hatte es gute Gründe gegeben. Der kommunistische Widerständler hatte zu außergewöhnlichen Maßnahmen gegriffen, um sicherzustellen, daß niemand - nicht einmal seine engen Mitarbeiter - eine Vorstellung von seiner Erscheinung gewinnen konnte. Es gab eine Ausnahme: einen Stellvertreter, mit dem Codenamen Petit-Louis. Dieser hatte den Leoparden überallhin begleitet und dessen Anweisungen weitergegeben, während der Chef selbst sich außer Sichtweite gehalten hatte.
»Er war über einsachtzig groß und damals
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