Nummer Drei: Thriller (German Edition)
nicht daran. Wenn ich an diese Aufführung denke, dann sehe ich immer nur Abdirashid.
Meine Familie saß im Zuschauerraum, aber ich musste zu den anderen Kindern auf die Bühne. Wir spielten ein paar Stücke gemeinsam, was ganz in Ordnung war, weil die anderen dabei waren. Dann ging ein Mädchen mit ihrer Klarinette zum Mikrofon, das vorn auf der Bühne stand. Ich hörte zu, konnte aber außer meinem pochenden Herzen nichts wahrnehmen. Meine Hände wollten einfach nicht ruhig bleiben.
Schließlich war ich an der Reihe und sollte aufstehen. Allerdings konnte ich mich nicht rühren. Mir war heiß, ich schwitzte, aber ich war auch ein Stück tiefgefrorenes Fleisch, ganz hart und unbeweglich. Die Lehrerin sagte mir, ich müsse vor das Mikrofon treten, aber ich konnte nicht. Die Scheinwerfer auf der Bühne waren grell, und ich hatte das Gefühl, sie brieten mich auf dem Stuhl, aber ich konnte nichts dagegen tun. Wenn ich meine Oud hielt, fühlte sie sich so lebendig an, so als passe sie sich meinem Körper an, nicht andersherum. Jetzt war sie nur eine tote Last in meinen Händen.
Mir war bewusst, dass die Leute auf meinen Auftritt warteten, auch wenn ich sie wegen der Scheinwerfer nicht sehen konnte. Ich hatte große Angst und fürchtete, sie hätten sich versammelt, um mich zu töten, statt mir beim Spielen zuzuhören.
Da kam Abdirashid aus dem Zuschauerraum nach vorn und stieg auf die Bühne. Er nahm mich an der Hand und half mir beim Aufstehen. Dann führte er mich zum Mikrofon.
› Gut so? ‹ , fragte er mich, aber nicht gehetzt, sondern ganz ruhig und sanft, obwohl so viele Leute zusahen. Wir standen in einem Kreis aus Licht. Ich sah die Menschen zwar nicht, aber ich spürte sie da draußen, wie sie atmeten. Wie das Meer in der Nacht, wenn es unsichtbar ist, wenn es Atem schöpft.
› Nein ‹ , antwortete ich ihm. › Du musst bei mir bleiben. ‹
Neben dem Mikrofon stand ein Notenständer. Jemand hatte meine Notenblätter schon bereitgelegt. Abdirashid nickte mir zu, nahm die Blätter vom Ständer und hielt sie mir hin, damit ich sie lesen konnte. Lächelnd gab er mir zu verstehen, dass ich beginnen solle.
Aber wir hatten nicht mit der Lehrerin gerechnet, die nun angelaufen kam. Sie trug immer ein Kopftuch, unter dem ihre Augen böse funkelten.
› Du kannst nicht hierbleiben ‹ , sagte sie zu Abdirashid. › Dies ist ein Konzert des zweiten Schuljahrs. Schüler aus anderen Schuljahren dürfen nicht auf die Bühne. ‹
Abdirashid zuckte nicht und blinzelte nicht. Er hielt das Notenblatt auf den flachen Händen. › Ich bin kein Schüler ‹ , erklärte er ihr. › Ich bin ein Notenständer. ‹ «
Auf der Jacht, in unserer eigenen Zeit, hält Farouz inne und schweigt.
Die Dusche rauscht in meinen Ohren.
»Bist du noch da?«, frage ich.
»Ja«, sagt Farouz.
»Was ist danach passier t ? Was hat die Lehrerin gesag t ?«
»Das weiß ich nicht«, antwortet Farouz. »Ich habe anscheinend gespielt. Ich weiß nur noch, dass Abdirashid der Lehrerin sagte, er sei ein Notenständer, und in dem Kreis aus Licht bei mir auf der Bühne blieb.«
Ich schließe die Augen, während Farouz erzählt, und lasse das Wasser an mir hinabströmen. Meine Sinne verschmelzen. Seine Worte umfließen mich, das Wasser redet.
Auf einmal spüre ich ein Stechen im Kopf. Es sind Nadelstiche, als verberge sich ein Gefühl in mir, das schon seit Monaten dort wartet, taub und tot wie ein eingeschlafenes Bein, das gerade wieder zum Leben erwacht, weil das Blut hineinschießt, und heiß wie Tränen.
Farouz erweckt dieses Gefühl zum Leben. Er und die Vorstellung, ihn verlassen zu müssen.
Verlass mich nicht!, denke ich. Das ist natürlich dumm, weil ich diejenige bin, die geht. Es muss sein, es gibt keinen anderen Weg.
Dann strömen die echten Tränen, mischen sich in das Wasser und in die Worte, die aus Farouz’ Mund kommen. Ich bin überrascht, weil ich sonst nie weine. Ich habe nicht einmal geweint, als Mom gestorben ist, aber nun laufen die Tränen, sie quellen aus mir hervor wie aus einem Behälter, der überläuft.
»Alles in Ordnung?«, fragt Farouz.
»Ja, schon gut«, antworte ich. »Ich habe nur Wasser geschluckt.«
Das ist sicher keine überzeugende Erklärung für mein Schluchzen, aber er gibt sich damit zufrieden.
Ich glaube, wir sehen uns heute zum letzten Mal.
Aber das ist in Ordnung, es ist gut, wie es ist.
Denn ich nehme seine Geschichten mit, kleine Teile von ihm. Sie sind in meinem Kopf, und ich kann mich
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