Nummer Drei: Thriller (German Edition)
die gleichen langen Wimpern.
»Du siehst ihm ähnlich«, sage ich.
Er nickt.
»Aber ich sehe nicht so gut aus«, antwortet er zwinkernd.
Überrascht lache ich.
Farouz’ Bruder deutet auf das London Eye.
»Wollen wir fahren?«, fragt er.
Damit habe ich nicht gerechnet, ich hatte es nicht geplant, aber es leuchtet mir ein. Ich bin nie damit gefahren. In der Stadt, in der man lebt, macht man es den Touristen nicht nach.
»Ja, gut«, willige ich ein.
Wir kaufen Tickets und stehen an, dann betreten wir eine der kleinen runden Gondeln und steigen langsam aufwärts. Unter uns liegt der Fluss, in der Nähe steht Big Ben, die Stadt breitet sich aus wie eine Landkarte, was ein dummer Vergleich ist, aber das ist mir egal. So sieht es eben aus. Weiße Wolken treiben langsam über London hinweg.
»Hat er von mir gerede t ?«, fragt Abdirashid, als wir nebeneinander stehen und nach draußen blicken.
Wir haben fast den höchsten Punkt erreicht. Ringsum kreisen Möwen, als wären wir am Meer. Ich frage mich, wann in London mehr Möwen als Tauben leben werden und wann auch sie ein Teil der Stadt und hier zu Hause sind.
»Ja«, antworte ich, und es ist die reine Wahrheit. »Er hat ständig von dir gesprochen.«
Abdirashid zittert. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir über seinen Bruder reden, oder ob er Drogen nimmt oder sonst etwas. Von Farouz weiß ich, dass er kein gutes Leben führte.
»Gute Sachen?«, fragt er. »Farouz hat gute Sachen gesag t ?«
»Nichts als gute Sachen«, bestätige ich. »Er hat mir eine Geschichte über ein Konzert erzählt.« Ich erinnere mich, wie ich unter der Dusche gestanden und Farouz beim Erzählen zugehört habe.
»Konzer t ?«
Ich tue so, als würde ich eine Oud spielen.
»Ah«, sagt Abdirashid. »Ja.« Er lächelt.
»Wi e … wie bist du hergekommen?«, frage ich. »Wie bist du aus dem Gefängnis gekommen?«
Abdirashid klopft auf seine Hosentasche.
»Ein Mann bringt Geld. Hunderttausend Dollar. Ich bezahle für Freiheit. Kenne jemanden, der Pass verkauft.«
»Hast du eine Entschädigung erhalten?«, frage ich. »Weil Farouz gestorben is t ?«
»Ja. Vom Anwalt.«
»Nyesh?«
»Ja, der. Und dann will wegfahren. Sehe nach Farouz’ E-Mail und bekomme E-Mail von dir. Du sprichst mit meinem Bruder, der tot ist.«
Er erzählt es mit sanfter, fragender Stimme und will nicht unterstellen, ich sei verrückt, sondern mir nur seine Neugierde zeigen. Ich nicke.
»Ich wusste, dass er tot ist«, bestätige ich. »Aber ich dacht e … ich weiß auch nicht. Ich habe gehofft, er sei irgendwie doch noch da.«
»Ich auch«, sagt Abdirashid. »Und deshalb sehe ich nach E-Mail.«
»Wie gut, dass du sein Passwort kennst!«, sage ich scherzend, um die Befangenheit zu überspielen.
Abdirashid wirkt verlegen. Zuerst vermute ich, er habe seinen Bruder irgendwie hintergangen und ihm über die Schulter gespäht, als er sich bei Hotmail eingeloggt hat.
»Ich kenne immer Farouz’ Passwort«, sagt er dann. »Immer dasselbe.«
»Oh«, sage ich. »Wenn das so ist.«
»Ist immer mein Name. Abdirashid.«
Er betrachtet seine Füße.
Was immer ich sagen wollte, es bleibt mir im Hals stecken und droht mich zu ersticken. Ich könnte heulen, aber das will ich nicht. Also beobachte ich eine Barkasse, die unter uns winzig klein durch das silberne Wasser pflügt. Ich denke über die Liebe nach, über Geld, über Entschädigungen. Vermutlich hat Abdirashid sich auf die Hosentasche geklopft, weil dort noch etwas Geld steckt, das von den Hunderttausend übrig ist. Also hatte Farouz recht – so läuft es dort wirklich. Die Piraten haben tatsächlich so etwas wie ein Ehrgefühl. Ich freue mich darüber. Es freut mich sehr, dass Farouz’ Tod etwas Gutes bewirkt hat. All das kann ich Abdirashid nicht erklären, weil er nicht gut genug Englisch spricht und mich wahrscheinlich nicht versteht.
Als sich unsere Kabine in einem großen Bogen wieder der Erde nähert, erzähle ich ihm in möglichst einfachen Worten, was sich auf der Jacht ereignet hat, wie sein Bruder gestorben ist, was Farouz mir erzählt hat, was ich für ihn empfunden habe. Es ist kompliziert, weil ein Teil von mir ihn liebte, während ein anderer, ein großer Teil in mir Angst vor ihm hatte. Muskeln sind attraktiv, aber sie betätigen auch den Abzug einer Waffe und schlitzen Kehlen auf. Jedenfalls fand ich ihn anziehend. Und mir ging sein Leid zu Herzen. Aber ist dies das Gleiche wie Liebe? Ich glaube nicht.
Ich weiß nicht, ob
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