Nummer Drei: Thriller (German Edition)
weiter zur Tür. Ich habe das Gefühl, wenn er hinter diesem kühlen blauen Metall im Schatten verschwindet, werde ich ihn nie wieder sehen, und dann ist es zu spät, um etwas über Farouz zu erfahren. Er hält den Kopf die ganze Zeit zu mir gewandt und sieht mich an.
Ich hole tief Luft.
»Farouz?«, frage ich.
Ahmed sieht mich weiter an, während er weggeschleppt wird. Dann wird sein Gesicht sehr traurig. Er hat ihn geliebt, denke ich und weiß tief in meinem Herzen, dass es einen guten Grund gibt, die Vergangenheitsform zu benutzen.
Ahmed schüttelt den Kopf. Jede Bewegung trifft mich wie ein körperlicher Schlag. Dann verschwindet er im Schiff.
Vor dem geistigen Auge sehe ich Farouz auf dem Deck der Daisy May stehen. Er winkt mir zu, hört nicht auf zu winken. Man könnte meinen, der Hubschrauber, der die Gefangenen zum Schiff gebracht hat, sei wie ein elastischer Ball, der in die Hand zurückspringt, aber so ist es nicht. Der Ball ist nur einmal dumpf auf dem Teppich aufgeprallt und bewegt sich nicht mehr.
Nein, denke ich. Bitte verlass du mich nicht auch noch!
Aber es ist zu spät.
Drei Monate später
Hören Sie zu.
Ich bin Amy Fields, aber die Männer nannten mich Nummer Drei.
Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört oder die Sondersendung auf Kanal 5 gesehen.
Vielleicht haben Sie mich für eine Heldin gehalten, vielleicht auch für eine Schlampe und eine unmögliche Type – das Mädchen mit den Piercings, das sich bei der Abschlussprüfung eine Zigarette angezündet hat. Auch das denken manche über mich.
Man sollte meinen, ich würde mich am meisten aufregen, wenn man mich Schlampe nennt, aber mir wird richtig übel, wenn ich als Heldin bezeichnet werde. Denn ich bin alles andere als eine Heldin. Ich hätte anstelle der Stiefmutter mitkommen können. Ich hätte ihren Platz einnehmen können, und dann wäre keiner dieser Männer gestorben. Wäre ich dort am Strand gewesen, dann hätte der Hubschrauber nicht geschossen.
Also, Sie haben wahrscheinlich etwas über mich gelesen, Fotos gesehen oder Radioberichte gehört. Vielleicht kennen Sie sogar Carrie und Esme, die offenbar die besten Quellen für Geschichten über mich sind. Aber ich habe bisher noch nie erzählt, was wirklich auf der Daisy May passiert ist.
Bisher.
Bisher habe ich über die Piraten berichtet. Ich habe auch von mir und Farouz erzählt. Von den Waffen und wie oft ich mit dem Tod gerechnet habe. Von den Menschen, die wirklich gestorben sind, und von Farouz’ Ende, der immer geraucht hat und zu Rauch geworden ist.
Aber ich muss noch etwas Wichtiges erzählen. Ich habe das Gefühl, ich muss es einfach loswerden.
Es ist Folgendes:
Ich will Ihnen sagen, dass Sie sich wieder zusammenfügen können, wenn Sie zerbrochen sind. Ich will Ihnen sagen, dass irgendwann am Horizont ein Licht tanzen kann, das Sie nach Hause führt, wenn Sie sich verirrt haben.
Schon klar, das klingt wie eine Predigt, die ein Vikar halten könnte. Aber das stimmt nicht, denn die sagen immer nur: Könnten Sie mir etwas Tee nachschenken, und würden Sie mir bitte den Battenbergkuchen reichen?
Immerhin, es klingt so, als könne es ein Pfarrer sagen. Vielleicht einer dieser übereifrigen Typen im amerikanischen Fernsehen aus der Gegend, aus der meine Mutter stammt. Aber es gibt trotzdem einen Unterschied. Ein Pfarrer weiß nicht mit Sicherheit, dass Gott existiert und dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist und so weiter. Ich dagegen weiß genau, wovon ich rede. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass einen das Leben in Stücke reißen und in tausend winzige Fetzen zerlegen kann, und trotzdem kann man wieder hochkommen und sich in Ordnung bringen.
Es ist wahr.
Vielleicht glauben Sie mir sogar, wenn ich alles erzählt habe.
Nach dem Vorstellungsgespräch bei der Royal Academy of Music kehre ich nach Hause zurück. Ich sitze fast zwei Stunden lang in der U-Bahn und dann im Bus. Ich lese nicht, ich höre keine Musik, sondern betrachte nur die Welt, die draußen vorbeizieht.
Es dämmert, als ich über die Allmende zu unserem Haus zurückkehre. Die Sterne sind schon aufgegangen. Ich blicke hinauf und sehe einen funkelnden Himmel – nicht so hell und nicht so stark besetzt wie in Somalia, aber immer noch sehr schön. Die Milchstraße ist ein Streifen aus Sternenstaub hoch droben.
Als ich das Tor öffne und über den kurzen Kiesweg zu unserer Haustür gehe, denke ich an die Bilder, die das Hubble-Teleskop von der Milchstraße aufgenommen hat. Sie sehen
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