Nummer Drei: Thriller (German Edition)
bedenken.
Beispielsweise die Uhr. Ich weiß noch, dass ich mich etwa eine Woche nach meinem sechzehnten Geburtstag aus der Brieftasche meines Dads bediente. Ich wollte abends ausgehen und brauchte Geld. Und da drinnen, eingeklemmt im Fach für die Geldscheine, steckte eine Kreditkartenquittung für eine Uhr von Chanel mit einer Unterschrift. Es war die Unterschrift meines Dads.
War er etwa dabei? Hatten sie die Uhr zusammen gekauf t ? Hatte er sie gekauft, und sie hatte beschlossen, mir die Uhr beim Frühstück zu geben, ohne ihn zu erwähnen? Ich weiß es nicht und kann ihn nie fragen. Er hat nie etwas geäußert, obwohl ich seinen überraschten Blick bemerkte. Es war, als würde hinter den Augen ein Streichholz angezündet, als er am nächsten Tag von der Arbeit kam und die Uhr an meinem Handgelenk bemerkte.
Ich denke an Mexiko. Dies ist die Wahrheit: Dad hat in jenem Sommer nicht gearbeitet. Seine eigene Mom, Oma Fields, lag im Sterben. Meine Mom wollte aber nicht bei ihm in London bleiben und ihre Schwiegermutter im Pflegeheim besuchen.
»Ich komme mit Mühe und Not mit mir selbst zurecht, mit diesem Mist kann ich mich nicht auch noch abgeben«, sagte sie.
»Ich brauche das Sonnenlicht, um Serotonin zu bilden«, sagte sie.
»Wenn ich nicht nach Mexiko fliege, könnt ihr mich gleich hier an Ort und Stelle einweisen«, sagte sie.
Also flog ich mit ihr nach Mexiko.
Während ich mit meinem Dad auf der Couch sitze, wird mir zum ersten Mal bewusst, dass es möglich und zulässig ist, zwei gegensätzliche Sichtweisen gleichzeitig für wahr zu halten.
Ich liebe meine Mom noch immer und glaube nach wie vor, dass sie das Recht hatte, sich für diesen Weg zu entscheiden. Sie hat auf ihre Schwermut reagiert und ist vor etwas Schrecklichem geflohen, dem sie anders nicht mehr entrinnen konnte. Das darf ich ihr nicht zum Vorwurf machen.
Außerdem gestehe ich mir etwas anderes ein.
Ich gebe zu:
Ich hasse sie, weil sie mich verlassen hat.
Das werde ich ihr nie verzeihen.
Dad sitzt neben mir auf dem Sofa und wirkt zerknittert wie ein zu lange getragener Anzug. Auch er musste mit ihr leben, denke ich. Jetzt muss er ohne sie leben. Wahrscheinlich hasst er sie, oder ein Teil in ihm hasst sie, während ein anderer Teil sie immer noch liebt. Ich kann mir vorstellen, dass ihn das zerreißt. Mich selbst zerreißt es jedenfalls.
Und doch, auch wenn im Moment so viel nicht in Ordnung ist, obwohl so viel im Argen liegt, obwohl so viel geschehen is t … trotz allede m … als ich Dad betrachte, der da neben mir sitzt, keimt in mir ein Gefühl, dass eines Tages alles wieder gut sein wird.
»Es tut mir leid, Amybärchen«, sagt er. »Ich habe mich verliebt. So etwas geschieht eben.« Er streicht mir das Haar aus der Stirn und klemmt es hinters Ohr. »Ich glaube, das weißt du selbst«, fügt er sanft hinzu.
»Schon klar«, erwidere ich. »Das meine ich aber nicht. Du has t …«
Nein, ich kann es nicht aussprechen. Mein Mund lässt die Worte nicht heraus.
»Was ist es, Amy?«, fragt er.
»Du hast mich auch verlassen«, sage ich. Nun stürzen die Worte aus mir hervor, als wären sie die ganze Zeit gefangen gewesen. Als wären sie Vögel, die endlich aus den Lungen, aus meinen Stimmbändern fliehen können.
»Was meinst d u …«
»Die Arbeit«, erkläre ich. »Die Geschäftsreisen. Das Büro. Ja, Mom hat mich verlassen. Sie hat uns verlassen. Aber du hast mich auch verlassen. Dabei lebst du noch.«
Dad sackt in sich zusammen wie ein Ballon, den man unten öffnet.
»Ich weiß«, gibt er zu. »Natürlich ist die Arbeit inzwischen kein Thema mehr«, fährt er fort.
»Nein«, stimme ich zu.
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Familie über die Allmende nach Hause gehen. Eine Mutter, ein Vater, zwei Kinder. Eins von ihnen schaukelt an den erhobenen Händen der Eltern. Ich habe Glück, denke ich. Ich habe riesiges, ungeheures Glück. Vor meinem inneren Auge stelle ich mir die Frauen vor, von denen Farouz erzählt hat. Wie sie auf der Flucht aus Mogadischu die toten Kinder am Straßenrand verscharrt haben.
»Ich mus s …«, setze ich an und bringe den Satz nicht zu Ende. Es ist typisch amerikanisch, auf diese Weise über Gefühle zu sprechen, und ich lebe seit Jahren in London. Ein Muskel in mir ist verkümmert. Er ist dafür verantwortlich, aufrichtige Gefühle über den Mund in die Welt zu entlassen. Vielleicht ist es mir auch einfach zu viel: Mom, Dad, Farou z … zu viele Verletzungen. Ich fürchte, nie mehr aufhören
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