Nur Der Tod Bringt Vergebung
ähnelte. Sie war Mitte Fünfzig, hatte tief ins Gesicht eingegrabene Falten und hellblaue, fast wäßrige Augen. Zusammen mit ihren drei Brüdern hatte man sie nach Iona ins Exil gebracht, als ihr Vater, der König von Bernicia, von seinem Rivalen, Edwin von Deira, getötet worden war. Edwin hatte die beiden Reiche zu einem einzigen Königreich vereinigt, das er, weil es «nördlich des Flusses Humber» lag, «Northumbrien» nannte. Als Abbes Brüder Eanfrith, Oswald und Oswiu zurückkehrten, um nach Edwins Tod ihren Anspruch auf den Thron geltend zu machen, begleitete Abbe sie als Geistliche der Kirche Columbans. Auf einer Landspitze in Coldingham gründete sie ein Kloster für Männer und Frauen und wurde von Oswald, der nach dem Tod ihres ältesten Bruders Eanfrith König geworden war, als dessen Äbtissin bestätigt.
Fidelma hatte viel von Coldingham gehört, das einen recht zweifelhaften Ruf genoß. Es hieß, die Nonnen und Mönche seien hedonistischen Genüssen verfallen, Äbtissin Abbe nehme den Glauben an den Gott der Liebe allzu wörtlich, und in den für Gebet und stille Einkehr erbauten cubicula würde dem Essen, Trinken und anderen sinnlichen Vergnügungen gefrönt.
Die Äbtissin ließ ihren belustigten, aber wohlwollenden Blick auf Fidelma ruhen.
«Mein Bruder, König Oswiu, hat mir von Eurem Auftrag erzählt.» Da sie in Iona aufgewachsen war, klang ihr Irisch wie das einer Einheimischen. Sie wandte sich an Eadulf. «Wie ich höre, seid Ihr ebenfalls lange Zeit in Irland gewesen?»
Eadulf lächelte kurz und nickte.
«Wir können irisch miteinander sprechen.»
«Gut.» Die Äbtissin seufzte und wandte sich wieder Fidelma zu. «Ihr seid hübsch, mein Kind. In Coldingham ist eine junge Frau wie Ihr immer willkommen.»
Fidelma spürte, daß sie errötete.
Abbe neigte kichernd den Kopf.
«Das sollte keine Beleidigung sein.»
«Ich bin auch nicht beleidigt», erwiderte Fidelma.
«Dazu hättet Ihr auch keinen Grund, Schwester. Ihr solltet nicht alles glauben, was Ihr über unser Haus zu hören bekommt. Unser Wahlspruch lautet dum vivimus, vivamus – wir leben, also laßt uns leben! In unserem Kloster wohnen Männer und Frauen, die dem größten Geschenk Gottes, nämlich dem Leben huldigen. Gott hat Männer und Frauen geschaffen, damit sie in Liebe miteinander leben. Wir verehren ihn, indem wir uns zu Werkzeugen seiner Vorsehung machen, zusammen leben, zusammen arbeiten und seine Werke preisen. Heißt es nicht im ersten Brief des heiligen Johannes: ‹Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus›?»
Fidelma rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
«Mutter Oberin, es ist nicht an mir, in Frage zu stellen, wie und nach welchen Regeln Ihr Euer Haus führt. Ich bin hier, um den gewaltsamen Tod Étains von Kildare aufzudecken.»
Abbe seufzte.
«Étain! Das war eine Frau, die zu leben verstand.»
«Und doch ist sie jetzt tot, Mutter Oberin», warf Eadulf ein.
«Ich weiß.» Ihre Augen blieben auf Fidelma gerichtet. «Und ich würde zu gerne wissen, was das mit mir zu tun haben soll.»
«Es hat einen Streit zwischen Euch und Étain gegeben», stellte Fidelma mit ruhiger Stimme fest.
Die Äbtissin blinzelte, verriet jedoch sonst mit keiner Geste, daß die Bemerkung sie getroffen hatte. Sie schwieg beharrlich.
«Vielleicht könnt Ihr uns erklären, worüber Ihr Euch mit der Äbtissin von Kildare gestritten habt?» forderte Eadulf sie schließlich auf.
«Wenn Ihr wißt, daß ich mit Étain gestritten habe, werdet Ihr sicherlich auch den Grund für unseren Streit erfahren haben», entgegnete Abbe mit fester Stimme. «Ich bin auf Iona in Columcilles Abtei aufgewachsen. Die irischen Brüder Christi haben mich erzogen. Es geschah auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, daß mein Bruder Oswald die Mönche von Iona bat, uns Missionare zu schicken, damit sie unseren heidnischen Untertanen den Weg Christi wiesen. Und als die ersten Missionare nach Iona zurückkehrten und sagten, die Northumbrier seien für die Erlösung Christi nicht bereit, war ich es, die den Abt von Iona flehentlich bat, unser Volk nicht aufzugeben. Auf diese Bitte hin kam schließlich der Heilige Aidán, um in Northumbrien zu predigen. Und so habe ich die mühsame Bekehrung unseres Volkes und die allmähliche Verbreitung des Gottesworts miterlebt, zuerst unter Aidán, dann unter Finán und zuletzt unter Colmán. Jetzt ist dieses große Werk durch die Machenschaften solcher Leute wie Wilfrid von
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