Nur Der Tod Bringt Vergebung
Gefühl, sie sei schon seit Ewigkeiten in der Abtei eingeschlossen.
Es verblüffte sie, daß Taran plötzlich einen so freundschaftlichen Umgang mit Wulfric und Seaxwulf pflegte. Sie fragte sich, ob das in irgendeiner Weise bedeutsam war und ob es mit Étains Tod zusammenhing.
Fidelma war ein wenig ratlos. Sie befand sich in einem seltsamen, fremden Land, und der Umstand, daß es der Tod ihrer Freundin war, den sie zu untersuchen hatte, verstärkte ihre Niedergeschlagenheit.
Durch das Seitentor der Abtei betrat sie den Pfad, der zur felsigen Küste führte. Außer ihr waren noch einige andere Spaziergänger unterwegs, doch es schien sie niemand weiter zu beachten, während sie mit nachdenklich gesenktem Kopf kräftig ausschritt.
Fidelma versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und alle Ergebnisse ihrer bisherigen Ermittlungen noch einmal durchzugehen.
Seltsamerweise ertappte sie sich immer wieder bei dem Gedanken an Eadulf, den sächsischen Mönch.
Seitdem sie in den Rang einer dálaigh erhoben worden war, hatte sie nicht mehr mit jemandem zusammengearbeitet und war einzig und allein der Wahrheit verpflichtet gewesen. Niemals hatte sie jemanden nach seiner Meinung fragen und sich erst recht nicht mit einem Angehörigen eines fremden Volkes auseinandersetzen müssen. Das Verblüffende daran war jedoch, daß Eadulf für sie kein Fremder im üblichen Sinne des Wortes war. Das führte sie darauf zurück, daß er lange Zeit in Durrow und Tuaim Brecain gelebt hatte. Doch konnte das wirklich dieses seltsame Gefühl der Verbundenheit erklären, das sie allmählich für Eadulf entwickelte?
Dieses Northumbrien war ein merkwürdiges Land, regiert von seltsamen Sitten und Gebräuchen, die sich von der klar durchschaubaren Ordnung Irlands grundlegend unterschieden. Fidelma lachte in sich hinein. Wahrscheinlich empfanden die Sachsen ihre Ordnung als ebenso klar durchschaubar wie sie selbst die Gesetze und Bräuche Irlands. Sie dachte an die Zeile aus Homers Odyssee: «Kann ich für mein Teil, als das eig’ne Land, doch sonst nichts Süßeres erblicken.»
Sie war hierhergekommen, weil Étain von Kildare sie darum gebeten hatte. Jetzt war Étain tot, und Fidelma mußte feststellen, daß ihr dieses Land und sein Volk mit seinem Stolz und seiner Überheblichkeit, seinem kriegerischen Gebaren und seinen grausamen Strafen nicht gefielen. Es war ein Land, in dem alle nur an Vergeltung dachten und niemand dem Sünder die Möglichkeit gab, seine Schuld zu tilgen oder seine Opfer zu entschädigen. Sie sehnte sich nach Hause zurück, wäre am liebsten auf der Stelle nach Kildare zurückgekehrt. Sie mochte die Sachsen nicht. Aber Eadulf war auch ein Sachse …
Wieder waren ihre Gedanken bei Eadulf angekommen. Wütend auf sich selbst, beschleunigte Fidelma ihren Schritt.
Aber war Eadulf so wie die Mehrheit seiner Landsleute? Er besaß viele gute Eigenschaften. Fidelma stellte fest, daß sie ihn gern hatte, daß er sie erheiterte und daß sie seinen scharfen Verstand bewunderte. Und doch hegte sie eine tiefe Abneigung gegen die Sachsen.
Aber schließlich gab es ja auch genug Vertreter ihres eigenen Volkes, die sie nicht leiden konnte. Stolz und Überheblichkeit waren in allen Ländern verbreitet.
Fidelma seufzte tief. Sie hatte sich stets viel auf ihr logisches, methodisches Denken zugute gehalten. Es verstörte sie, daß sie nun so durcheinander war, obgleich sie doch dringend den Mord an Étain aufzuklären hatte. Welche Richtung sie auch einschlug, alle Überlegungen schienen bei Eadulf zu enden. Warum Eadulf? Weil sie mit ihm zusammenarbeiten mußte? Fidelma ahnte, daß es noch einen anderen Grund dafür gab.
Als Fidelma in die Abtei zurückkehrte, war Eadulf nirgends zu sehen. Deshalb begab sie sich in Schwester Athelswiths officium, um dort auf ihn zu warten. Sie wollte gerade Schwester Athelswith bitten, Bruder Taran zu rufen, um allein mit der Befragung zu beginnen, als die Tür aufschwang und diese hereingeplatzt kam.
«Schwester Fidelma! Schwester Fidelma!» rief sie verzweifelt.
Erstaunt erhob sich Fidelma von ihrem Stuhl.
Schwester Athelswith sah sie ängstlich an. Ihr Gesicht war gerötet. Offenbar war sie gerannt.
«Schwester, was ist geschehen?»
Athelswiths Augen waren schreckgeweitet. Sie erbleichte, und es dauerte eine Weile, bis sie endlich sprechen konnte.
«Der Erzbischof von Canterbury … Er liegt tot in seinem cubiculum !»
XIII
«Was habt Ihr gesagt?» fragte Fidelma, die ihren Ohren nicht
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