Nur Der Tod Kann Dich Retten
Träume auch, uns etwas zu sagen. Sie wollen uns helfen, Probleme zu klären. Deswegen haben manche Menschen immer wieder den gleichen Traum. Man nennt das wiederkehrende Träume, die Menschen haben, bis sie sich mit ihnen auseinandersetzen und ergründen, was sie bedeuten.
Wo wir gerade von Träumen sprechen, ich hatte neulich einen wirklich seltsamen Traum, der mich ziemlich aufgewühlt hat. Ich stand auf einer großen Bühne und sprach zu einem gefüllten Auditorium. Ich weiß nicht, worüber, aber was immer es war, es lief wirklich gut. Immer wieder wurde ich von spontanem, tosendem Beifall unterbrochen, und im Licht eines Scheinwerfers, der die Zuschauerreihen abschwenkte, konnte ich die lächelnden Gesichter im Publikum sehen. Doch dann schlug der Applaus unvermittelt in Gelächter um. Die Menschen zeigten mit den Fingern auf mich. Ich blickte an mir herab und sah, dass ich nackt war. Splitterfasernackt. Und die Leute bewarfen mich mit Bonbonpapieren und hart gekauten Kaugummis. Jugendliche hielten Handys hoch und machten Fotos von mir. Und sie hörten nicht auf, egal, was ich sagte. Es war eine totale Demütigung.
Dann bin ich aufgewacht. Bevor ich die Gelegenheit hatte, es wieder wettzumachen oder mich zu rächen. Mir gefällt der Gedanke, dass dafür das wirkliche Leben da ist. Für Erlösung und Rache. Und wenn man zwischen den beiden wählen muss, nehme ich Letztere. Rache macht viel mehr Spaß.
Jedenfalls versuchte ich, ein paar Leuten von meinem Traum zu erzählen, aber niemand interessierte sich dafür.
Nachdem ich also zehn Minuten neben Fiona gesessen hatte, wachte sie endlich auf, sah mich bloß an und sagte: »Hi.«
»Hi«, erwiderte ich und legte einen Arm um ihre Schulter.
Sie lehnte ihren Kopf an meinen, und so saßen wir etliche Minuten einfach da, bis ich zu befürchten begann, dass sie schon wieder eingeschlafen war. Ich fragte mich sogar, ob sie vielleicht an Narkolepsie litt, was bedeutet, dass Menschen mitten in dem, was sie gerade tun, plötzlich einschlafen, nicht weil sie müde sind, sondern weil irgendwas in ihrem Gehirn nicht richtig verkabelt ist. Ich meine, ganz ehrlich, irgendwas war da doch schwer gestört. Ich fragte sie, ob sie Hunger hätte, und sie schüttelte den Kopf. Ich fragte sie, ob sie Angst hätte, und sie sagte nein. Ich fragte sie, warum nicht, und sie fragte mich, wann Cal kommen würde. Ich sagte, er würde nicht kommen und hätte auch keine Ahnung, wo sie war. Daraufhin starrte sie mich dreißig Sekunden lang an. Man konnte förmlich sehen, wie der Groschen endlich fiel und sie begriff, was los war. Dann fragte sie mich, ob ich auch Liana Martin umgebracht hätte, was ich bejahte. Und was tat sie als Nächstes? Es war wirklich unglaublich. Sie lächelte und legte ihren Kopf wieder auf meine Schulter.
Nun, das war garantiert das Letzte, was ich erwartet hatte, und es hat mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Ich meine, das ist doch, als würde man sich in einem vollen Supermarkt in der Schlange an der Kasse vordrängen und rufen: »Ich zuerst! Ich zuerst!«, nur dass die Kassiererin in diesem Fall der Todesengel ist.
»Hast du keine Angst?«, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf, sodass Strähnen ihres Haares meinen Mundwinkel streiften. Ich roch Aprikosen.
»Warum nicht?«
Sie schüttelte noch einmal den Kopf, als wollte sie sagen, sie wisse es nicht.
»Erzähl mir etwas von dir«, drängte ich sie, weil ich sie plötzlich besser kennen lernen wollte.
»Da gibt’s nichts zu erzählen.«
»Bestimmt. Was ist mit deiner Familie? Deinen Eltern?«
»Die sind beide tot.«
»Wie das?«
»Krebs. Erst meine Mutter, ein paar Jahre später dann mein Vater.«
»Brüder und Schwestern?«
»Ein Bruder. Ich habe ihn seit fünf Jahren nicht gesehen.«
»Warum nicht?«
»Er wohnt in Fresno«, sagte sie, als ob das alles erklären würde.
Ich fand immer, dass Fresno ein alberner Name für eine Stadt ist, und sagte das auch. Sie kicherte und meinte, das fände sie auch.
»Kommst du ursprünglich aus Fresno?«, fragte ich.
Sie bestätigte es.
»Hast du dort auch Cal kennen gelernt?«
Wieder lautete die Antwort Ja.
Ich dachte, dass ich ihr jedes Detail aus der Nase ziehen müsste, aber sie verblüffte mich erneut, indem sie sich vor meinen Augen von einer praktisch Stummen in eine veritable Plaudertasche verwandelte.
»Kennen gelernt habe ich Cal vor sechs Jahren, als mein Vater krank war. Er hat als Pfleger in dem Krankenhaus gearbeitet. Ich
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