Nur Der Tod Kann Dich Retten
fünfmal, bevor die Mailbox der Drummonds ansprang. Sandy hinterließ eine kurze Nachricht und bat um baldigen Rückruf. »Niemand ist je für diese Kinder zu Hause. Kein Wunder, dass sie so verloren wirken.«
»Willst du damit sagen, wir sollten alle unsere Jobs aufgeben und Vollzeitmütter werden?«
Sandy zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was ich sagen will.«
»Kerri Franklin ist Vollzeit-Mutter.«
Sandy verdrehte die Augen zur Decke. »So einfach ist es offensichtlich auch nicht.«
»Und du bist ganz sicher, dass ich dich nicht doch noch überreden kann mitzukommen?«
»Das ist das Stichwort für meinen Abgang.« Sandy stand auf, öffnete die Tür und trat in den Flur. »Sei vorsichtig heute Abend.«
»Okay.«
»Das ist mein Ernst. Wenn du auch nur so eine Ahnung hast, dass mit dem Typen irgendwas nicht stimmt, musst du sofort abhauen.«
»Ja, Mama.« Rita hielt sich mit den Daumen die Ohren zu und winkte mit den Fingern.
Sandy lachte und zog die Tür hinter sich zu. Kurz darauf marschierte sie den breiten Flur des Hauptgebäudes hinunter Richtung Ausgang. Es roch wie in allen Highschool-Fluren, eine Mischung aus Schweiß, schmutzigen Socken, zu viel Parfüm, Mundwasser und Desinfektionsmittel. Die Betonwände waren in einem matten Gelb gestrichen und mit gerahmten Fotos von Schülern aus der erst zwölfjährigen Schulgeschichte dekoriert. Es gab Bilder von Football-, Baseball- und Basketballmannschaften nebst einer Vitrine mit von ihnen errungenen Pokalen. Des Weiteren gab es Fotos des kurzlebigen Schach-Clubs, des noch kurzlebigeren Debattier-Clubs sowie eine Abteilung, die den diversen Produktionen der Theater-AG gewidmet war. Sandy suchte nach einem Bild von Victor Drummond, aber die einzigen Anatevka -Fotos zeigten Tanya McGovern, Amber Weber und Liana Martin als heiratswillige Töchter des Milchmanns und Greg Watt als ihren geplagten Vater Tewje. Fürwahr ein Fiedler aus der Hölle, dachte Sandy, während ihr Blick zu Liana Martin zurückkehrte.
Wo steckte sie bloß? Was war mit ihr passiert?
»Und was meinen Sie dazu?«, fragte eine Stimme hinter ihr,
die Sandy zusammenzucken ließ. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Sandy fuhr herum und sah sich Gordon Lipsman, dem Theaterlehrer der Schule, gegenüber. Er hatte ein breites Grinsen aufgelegt, das von einer Seite seines großen eckigen Kopfes zur anderen reichte, und fixierte sie mit seinen irritierenden Schielaugen. »Gordon. Ich habe Sie gar nicht gehört.«
»Sneakers.« Er zeigte auf seine Schuhe, ohne den Blick zu senken. »Heimlich, still und leise.«
Sandy lächelte gezwungen. Gordon Lipsman war einer der Menschen, deren unbedingtes Bedürfnis, gemocht zu werden, es einem beinahe unmöglich machte, ihnen diesen Gefallen zu tun, ein wandelndes Klischee. Er sprach mit einem pseudo-englischen Akzent, der ebenso unecht wie enervierend war, weil Gordon, wie jeder wusste, in Torrance geboren war. Mittlerweile war er vierzig, unverheiratet und hatte bis vor kurzem mit seiner verwitweten Mutter und mehr als einem Dutzend Katzen in einem Haus am Stadtrand gewohnt. Seine Mutter war im Februar gestorben, was einen kleineren emotionalen Zusammenbruch und die Verschiebung der diesjährigen Musical-Inszenierung nach sich gezogen hatte, angeblich hatte Kiss Me, Kate auf dem Programm gestanden.
»Wie ich sehe, bewundern Sie die Ruhmeshalle der Theater-AG.«
»Sehr beeindruckend.« Sandy begann stumm, die Katzenhaare auf Gordon Lipsmans blau-weiß gestreiftem Seersucker-Jackett zu zählen. Und war das Ketchup an dem einen Ärmel? »Ich hatte keine Ahnung, dass Greg Watt singen kann.«
»Oh, der Bursche steckt voller Überraschungen. Er war ein wirklich formidabler Tewje, obwohl sein Vater nicht allzu begeistert darüber war, dass sein Sohn wertvolle Zeit auf der Bühne vergeudete. Nach Ansicht seines alten Herrn hätte er lieber auf dem Feld mitanpacken sollen. Er hat ziemlich unmissverständlich klar gemacht, dass dies Gregs letzter Ausflug
in derlei fantastische Gefilde war. Obwohl er sich, glaube ich, etwas anders ausgedrückt hat.«
»Bestimmt.«
»Ich hatte gehofft, ihn umstimmen zu können. Er wäre ein wundervoller Petruchio, finden Sie nicht?«
»Ich wusste gar nicht, dass die Theater-AG dieses Jahr eine Aufführung plant.«
»Oh ja. Meine Mutter, sie ruhe in Frieden, hätte es so gewollt. Und Kiss Me, Kate war eins ihrer Lieblingsmusicals.« In seinen Augen schimmerten plötzlich Tränen, die im nächsten Atemzug
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