Nur die Nacht war Zeuge (Mord Azur) (German Edition)
oder zumindest der, der sich den ganzen Plot ausgedacht hat, ich meine diese Europa-Holding.“
Irina Honig legte eine Pause ein, um wieder von den köstlichen Amuse Gueules zu profitieren und einen ordentlichen Schluck Rosé zu nehmen. „Warum dieser Piet ermordet wurde ist uns allen ein Rätsel, er war zugegeben ein Ekel, wollte aber angeblich von allen Ämtern zurücktreten und wäre so niemandem mehr im Wege gewesen.“
„Ach Gott, meine Liebe, ich glaube, Ihr habt noch jede Menge Arbeit vor Euch.“
„Du sagst es, wir müssen jede Menge Steine umdrehen, wir müssen nicht nur das Geschäftsleben, sondern auch das Privatleben der Akteure durchleuchten, kurz, die berüchtigte Nadel im Heuhaufen finden.“
„Ich fange morgen bei der Sekretärin des Verstorbenen an.“
„Und wie ist dieser Ken Bernstein.“
„Ein kleiner Mann mit dicker Zigarre, aber recht sympathisch. Sein Partner Dane kannte noch meinen William.“ Irina Honig seufzte. Juliette goss schnell etwas Rosé nach.
29.
Anne-Sophie war nicht länger als nötig in der Agentur geblieben, sie hatte nichts mehr zu verlieren, sie hatte ja alles verloren. Ted hatte sich nicht wieder gemeldet.
Er hatte ihr die Telefonummer seines Handys gegeben, und damit die Berechtigung, ihn anzurufen. Sie hasste dieses Warten auf Anrufe, sie hasste dieses don’t call us, we call you.
Ihre letzte Affäre mit Laurent, einem Rechtsanwalt, den sie bei InterNations kennengelernt hatte, war dieser „don’t call us, we call you-Typ“ gewesen. Immer musste man aufpassen, ihm nicht auf den Leib zu rücken. Alles sollte immer unverbindlich bleiben. Er hatte gewusst, dass sie weder den Mann für’s Leben suchte, weder den Vater für ihre Kinder, noch einen Ernährer, also hätte er doch ganz relaxed an die Sache ran gehen können. Aber nein, Laurent bestimmte, wann es ihm passte, Telefonate zu führen, wann es ihm passte, mit ihr auszugehen, wann es ihm passte Golfen zu gehen, oft nicht mit ihr, sondern seinen Freunden. Laurent war ein kurzes Kapitel in ihrem Leben gewesen. Anne-Sophie erwartete keine Liebesschwüre von Männern, wohl aber ein unkompliziertes, erfreuliches Beisammensein für die Zeit, in der man sich etwas zu sagen hatte, wie lang auch immer die sein würde.
Anne-Sophie schloss die Tür zu ihrem Haus auf. Sie nahm einen Drink und ihr Telefon mit auf die Dachterrasse und setzte sich in ihren Lieblingssessel. Die Nummer von Ted hatte sie schon bei ihren „Favoriten“ eingegeben, sie musste nur noch einen Knopf drücken. Das Tonzeichen erklang, sie lauschte dem Zeichen, dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal. Weder Ted noch ein Anrufbeantworter meldeten sich. Wo war er? War er bei seiner Frau und konnte deshalb sein Telefon nicht beantworten? War er mit seinem Sohn unterwegs? War er aus mit Freunden? Wo war er?
Beim letzten Anruf hatte er noch gesagt, sie solle doch auch mal nach London kommen, er würde dann für diesen Tag den Regen abbestellen. Anne-Sophie wurde sich plötzlich bewusst, dass sie gar nicht reisen durfte. Die Polizei hatte ihren Pass eingezogen und ihr verboten, das Land zu verlassen. Sie war eine Hauptverdächtige, hatte man ihr gesagt. Verdächtigte Ted sie eventuell auch des Mordes und war deshalb für sie unerreichbar?
Nach einer Stunde und dem zweiten Drink, versuchte Anne-Sophie nochmals Ted zu erreichen. Umsonst.
30.
„Tote sprechen“, sagt ein altes kriminalistisches Sprichwort. Hoffnungsvoll klopfte Irina Honig an die Tür der Sekretärin des Toten.
„Herein“, antwortete eine schleppende Stimme. Pina Navaro stand über eine Zeitung gebeugt, ein Knie lässig auf dem Schreibmaschinenstuhl. Sie war eine große, gutaussehende Frau mit honigblondem, halblangem Haar, sie trug eine cognacfarbene Leinenhose, eine cremefarbene Seidenbluse, Goldketten in unterschiedlichen Längen schmückten die Bluse. Sie war die repräsentative Chefsekretärin. Nur ihr Blick und ihre Bewegungen wurden dem Image nicht gerecht.
„Sie sind Frau Navaro, die Sekretärin des Toten?“ eröffnete Irina Honig das Gespräch.
„Die Assistentin“, korrigierte Pina Navaro, ohne merklich die Lippen zu öffnen. Sie fixierte die Besucherin mit feindlichen Augen.
„Entschuldigung“, sage Irina Honig und hob bedauernd ihre Hände, „man hat mich falsch informiert.“
„Macht nichts“, sagte Pina Navaro gelangweit. Mit müder Handbewegung bot sie Irina Honig einen Platz an. Die Zeitung, die den
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