Nur ein Gerücht
ihm erlebt habe.«
Plötzlich schien sie verunsichert. »Aber er hat dich nicht angerührt ...?«
»Udo brauchte niemanden anzurühren, es reichte, wenn er den Mund aufmachte. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du nie mit deinem Namen angeredet wirst? Wenn du immer nur die fette Sau, die dicke Planschkuh, das Mopsgesicht, die Schwabbelkuh oder der Fettkloß bist? Wenn du dir anhören musst, dein Hirn sei genauso verfettet wie der Rest deines Körpers? Oder dass, solltest du überhaupt jemals einen Mann abbekommen, es sich höchstens um einen Perversen handeln könne, der gerne im Fett wühle? Was für dich sicher kein Problem darstelle, da du ja unter Perversen aufgewachsen seist.« Ich hörte seine Stimme, als stünde er neben min »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du immer ausgegrenzt wirst?«
»Udo war nicht dein einziger Mitschüler!«
»Sicher nicht, aber er wurde entweder bewundert oder gefürchtet. Du warst für oder gegen ihn. Und er konnte einem sehr schnell klar machen, dass es besser war, für ihn zu sein.«
»Willst du mir allen Ernstes sagen, du lässt kein gutes Haar an ihm, weil er dich mal Planschkuh genannt hat?«
»Nicht mal«, erwiderte ich scharf, »täglich. Außerdem hatte er eine Spezialität. Er hat gerne Fotowettbewerbe veranstaltet.« Ich schluckte. Mir wurde immer noch schlecht, wenn ich dar an dachte. »Wer von den glorreichen Fünf das hässlichste und entwürdigendste Foto von mir machte, hatte gewonnen. Das Siegerfoto wurde dann in der Klasse herumgereicht.«
»Sei still! Ich will das nicht hören. Das ist lange her.« Sie ballte die Fäuste, und für einen kurzen Augenblick hatte ich die Vision, sie würde zuschlagen. »Carla Bunge, hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du schrecklich selbstgerecht bist?« Statt einer Antwort gab ich der Kellnerin ein Zeichen, dass ich zahlen wollte.
»Hast du noch nie in deinem Leben einen Fehler gemacht?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Du urteilst über Udo, obwohl du ihn zwanzig Jahre lang nicht gesehen hast. Wenn du so über ihn denkst, warum bist du dann überhaupt zu seiner Trauerfeier gekommen?«
»Ich wollte sehen, ob er immer noch Macht über mich hat.«
»Nach all diesen Jahren hat dich allein das interessiert? Hast du schon einmal etwas von dem Wort verzeihen gehört?« Unwillig schüttelte ich den Kopf.
»Das setzt eine ganze Menge voraus, allem voran eine Entschuldigung.«
»Reicht sein Tod nicht, tun zu verzeihen?«
»Ein Tod entschuldigt gar nichts!«
Als suche sie größtmöglichen Abstand zu mir, rutschte sie weit auf ihrem Stuhl zurück. »Du bist unerbittlich, nicht wahr?«
»Nein, nur aufrichtig.«
»Hätte ich das vorher gewusst ...« Ihre Worte verloren sich in dem Lärm, den eine Gruppe von Neuankömmlingen verursachte. »Du hättest nicht zu seiner Trauerfeier kommen dürfen! Es ist, als hättest du sie entweiht.« Wieder ballte sie die Fäuste.
»Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe, Melanie«, sagte ich mit einem beklommenen Gefühl in der Brust.
»Du erwartest jetzt aber nicht, dass ich dir verzeihe«, sagte sie voller Sarkasmus. »So billig kommst du mir nicht davon.«
In diesem Moment kam endlich die Kellnerin, um zu kassieren. Ich zahlte meine Schokolade und wartete ungeduldig, bis auch Melanie ihre Rechnung beglichen hatte. Dann stand ich auf. »Ich muss zurück, Melanie. Mach's gut.«
»Das verzeihe ich dir nicht«, hörte ich sie in meinem Rücken sagen.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich zur Garderobe, nahm meine Regenjacke vom Haken und verließ eilig das Café. Draußen regnete es immer noch in Strömen. Erst als ich die 'Für meines Autos hinter mir zugeschlagen hatte, holte ich tief Luft und ließ erleichtert den Motor an.
Der Anblick, der mich erwartete, als ich die Stallgasse betrat, zauberte für Sekunden ein Lächeln auf mein Gesicht. Basti hatte einen kleinen Tisch aus dem Büro geholt, ihn zwischen zwei Boxentüren aufgestellt und ihn wie für ein Kaffeekränzchen gedeckt, mit Bechern, einer Thermoskanne und einer nicht gerade ]deinen Auswahl an Keksen. Dazu erklang eine Opernarie.
Über einen Pferderücken hinweg sah er mich fröhlich an. »Bei diesem Wetter muss man es sich drinnen einfach schön machen«, erklärte er das Stillleben, das ich staunend betrachtete.
»Du bist Opernfan?«
»Ich nicht, aber die Pferde.«
»Ist mir noch nie aufgefallen.«
Mit dem Kopf machte er eine Bewegung in Richtung des gedeckten Tischs. »Greif
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