Nur ein Gerücht
relativ jungen Menschen ...« Die Stimme versagte ihr. Gedankenverloren starrte sie auf die glatte Oberfläche des Holztisches und strich mit den Fingern darüber.
Im Stillen vollendete ich ihren Satz: Bei einem jungen Menschen kommen eben auch nur die, die ihn geliebt haben. Oder die, die wissen wollen, ob er seine Macht über den Tod hinaus behalten hat.
»Er hat sich verändert mit den Jahren«, fuhr sie stockend fort. »Er war nicht mehr ...« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Er war viel ruhiger geworden.«
Was wollte sie? Ihn in meinen Augen rehabilitieren? Es gab nichts, was sie sagen konnte, um mir Udo Fellner in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Voller Abwehr sah ich sie an.
Sie wurde unsicher unter meinem Blick. »Ich weiß, er konnte damals manchmal verletzend sein.«
Wenn sie jetzt sagte aber er meinte es nicht so , würde ich aufstehen und gehen.
Stattdessen flüsterte sie: »Ich habe das auch oft zu spüren bekommen ...aber er war mein Bruder.«
Unauffällig sah ich auf meine Uhr. Es war erst eine Viertelstunde vergangen.
Sie hatte meinen Blick jedoch bemerkt. »Du hast es eilig, nicht wahr?« Ihr enttäuschter Gesichtsausdruck beschämte mich.
»Nein ... ja ... entschuldige«, druckste ich herum.
»Ich will dich nicht lange aufhalten. Eigentlich wollte ich dir nur danken, dass du zur Trauerfeier gekommen bist. Das fand ich sehr anständig von dir.«
»Du hattest mich gebeten ...«
Blicklos starrte sie vor sich hin, bis sie zurückfand und mich ansah. »Ich habe einige gebeten, aber sie sind nicht gekommen. Es war wegen dieser schrecklichen Sache.«
»Du meinst wegen seines Selbstmords?«, fragte ich ungläubig. Die Zeiten, in denen die Menschen dafür geächtet wurden, waren längst vorbei. Ich war überzeugt, dass sie versuchte, sich die Wirklichkeit so hinzubiegen, dass sie leichter erträglich war. Wie sollte sie auch damit fertig werden, dass ihr Bruder ein mieses Schwein gewesen war, dem kaum jemand eine Träne nachweinte?
»Nein«, entgegnete sie, darauf bedacht, dass mir keine Silbe entging. »Es war wegen des Rufmords an ihm.«
7
U do war ein guter Lehrer«, sagte Melanie mit einem Anflug von Stolz. »Sicher einer von den strengeren, aber vielleicht gerade deshalb ein guter.«
Udo war Lehrer? Das ist nicht dein Ernst.« Welcher Teufel hatte ihn geritten, diesen Beruf zu wählen?
»Er hat sich geändert, auch wenn du das nicht für möglich hältst. Nach dem Abitur hatte er gerade angefangen, Wirtschaft zu studieren, als er einen schweren Verkehrsunfall hatte.
Er lag zwei Wochen im Koma, mehrere Wochen im Krankenhaus und verbrachte schließlich Monate in Rehakliniken. Diese Zeit hat ihn verändert. Danach begann er sein Pädagogikstudium.«
Mir kam es vor, als redeten wir über zwei verschiedene Menschen. Mein Blick war ebenso ungläubig wie beredt.
»Warum willst du ihm eine Entwicklung absprechen?«, fragte sie befremdet. »Du hast dich doch auch verändert«
»Ich habe abgespeckt.«
»Das ist es nicht allein. Früher warst du wie ein Schatten, gar nicht richtig da.«
»Dank Udo!«, sagte ich kalt.
Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Als Lehrer war er beliebt, obwohl die meisten davon jetzt nichts mehr wissen wollen.« Ihre Bitterkeit war unüberhörbar. »Die Menschen haben so wenig Charakter. Wenn es schwierig wird, lassen sie einen fallen. Aber das allein hat ihnen bei Udo nicht gereicht. Sie mussten auch noch nach ihm treten, als er längst am Boden lag.« War das die biblische Gerechtigkeit, die ich immer dann vor Augen hatte, wenn ich ihn in meinen Tagträumen zusammengeschlagen hatte und auf ihm herumgetrampelt war? Jetzt wäre der Moment gewesen, um Genugtuung zu spüren, um zu sagen: Geschieht ihm recht! Aber ich konnte es noch nicht einmal denken. »Warum haben sie das getan?«
»Weil viele Menschen glauben, dass jedem Rauch ein Feuer vorausgegangen sein müsse. Aber glaube mir, es gab kein Feuer. Udo war ein guter Vater. Jeder konnte während der Trauerfeier sehen, wie sehr seine Kinder um ihn geweint haben.« Ich spürte, wie mein Körper sich verkrampfte. Es bekam mir nicht, länger über Udo Fellner nachzudenken. Die Erinnerungen sollten bleiben, wo sie waren! »Lass ihn ruhen, Melanie.«
»Er wird nicht ruhen, nicht, bis ihm Gerechtigkeit widerfahren ist. Das spüre ich.«
»Du bist erschöpft und übermüdet, da ist es kein Wunder, wenn du auf solche Gedanken kommst.« Ich sah sie fest an, so dass sie meinem Blick nicht
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