Nur ein Jahr, Jessica!
ganz einfach. Und von meiner Mutter. Sie ist Turnlehrerin, und mein Vater war Zirkusartist. Er stürzte von einem Trapez ab, als ich vierzehn Tage alt war.“
„Gott, wie schrecklich für deine Mutter!“
„Ja, das kann man wohl sagen. Ich verlor den Vater so früh. Du hast es eigentlich gut, Jessica, mit deinen Eltern.“
„Und ob ich es gut habe“, pflichtete ich ihr bei. „Mit meinen Eltern, mit Falko, mit Reni – und mit euch!“
Eines Tages saß ich mit Marcus auf dem Schoß und versuchte, ihn zu überzeugen, daß Spinat sehr gut schmecke. Unsere Auffassungen gingen in diesem Punkt entschieden auseinander, und ich rechne es mir selbst hoch an, daß ich als Siegerin aus dem Kampf hervorging.
„Jetzt warst du aber lieb, Marcus!“ sagte ich. „Wollen wir jetzt Flugzeug spielen?“ Ich fragte ihn aus Überzeugung, daß jede gute Tat eine Belohnung verdient. Und das Spinatessen war für Marcus die gute Tat des Tages.
„Nein, Pony!“ verlangte Marcus.
„Gut, spielen wir also Pony.“
Zu diesem Spiel mußte ich mich hinknien, Marcus kletterte auf meinen Rücken und ich krabbelte los. Das galt als Ersatz für Marcus’ sonntägliches Ponyreiten im Zoo.
„Schneller!“ kommandierte Marcus. Ich dachte an den Spinat und steigerte das Tempo und merkte gar nicht, daß die Tür zum Flur aufgemacht wurde.
„Jessica, ein Herr möchte…“
Bums! Schon geschehen! Mit meinem Reiter war ich mit zwei Männerbeinen zusammengestoßen.
Ich sah entsetzt in die Höhe.
Dann ließ ich meinen Reiter absteigen und stand auf. Denn das Gesicht des Herrn, der belustigt schmunzelte, gehörte Direktor Frisch-Nielsen.
Bernadette nahm Marcus mit, und ich stand meinem Direktor gegenüber. Er reichte mir die Hand.
„Sie ahnen wahrscheinlich, warum ich gekommen bin, Fräulein Jessica?“
„Ich glaube schon, Herr Direktor. Wollen Sie, daß ich zurückkomme?“
„Ja. Sind Sie dazu bereit?“
„Ja. Ich möchte gern zurück.“
„Wollen Sie mir verraten, warum? Nur wegen des guten Gehaltes?“
„Deswegen auch“, gab ich zu. „Aber es gibt auch einen anderen Grund. Und den möchte ich Ihnen eigentlich gern sagen, falls Sie mir erlauben, ehrlich zu sprechen.“
„Ich bitte Sie darum!“
Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und ich setzte mich ihm gegenüber.
„Ich möchte zurück, weil ich weiß, daß ich Ihrer Gattin helfen kann, und weil sie Hilfe benötigt. Sie braucht jemanden, der sie in ihrer Entwicklung weiterleitet, die durch den frühen Tod ihrer Eltern unterbrochen wurde. Jemanden, der ihr Verständnis entgegenbringt, der sich die Mühe macht, herauszufinden, warum es bisher so schwer war, mit ihr zusammenzuarbeiten. Ja, Herr Direktor, Sie haben mich gebeten, offen zu sprechen!“
„Und Sie meinen, Sie haben den Grund gefunden?“
„Ja! Und ich habe noch mehr zu sagen, Herr Direktor. Auch auf die Gefahr hin, daß Sie mir dann böse sind. Der Grund ist der, daß Ihre Gattin vernachlässigt worden ist. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr hat kein Mensch sich darum gekümmert, sie zu leiten, ihr etwas beizubringen! Sie war ein bildhübsches Mädchen, reizend, jung und unerfahren – und auf diesem Stand haben Sie sie belassen! Dabei ist sie so leicht zu leiten! Ich nahm als Ausgangspunkt ihre Eltern. Ich fing da an, wo sie damals stehengeblieben ist. Ich habe bis jetzt nicht viel geschafft, aber immerhin so viel, daß Ihre Gattin jetzt die Haushaltsgeräte bedienen kann, und ein bißchen Kochen hat sie auch gelernt. Und sie ist wißbegierig geworden! Es macht ihr Spaß! Sehen Sie, auf meinem kleinen Gebiet möchte ich alles tun, was ich kann, um – bitte, nehmen Sie es mir nicht übel – einen erwachsenen Menschen aus ihr zu machen. Aber es gibt Gebiete, wo ich nicht helfen kann, da müssen Sie es selbst tun. Sie liest nie ein Buch, besitzt kaum eins. Dann suchen Sie doch etwas heraus aus Ihrem Bücherschrank im Arbeitszimmer, erzählen Sie etwas daraus, schlagen Sie ihr vor, es selbst zu lesen! Sie wird es tun.
Erstens, weil sie wie ein wohlerzogenes Kind gehorcht und tut, was man ihr sagt.
Zweitens, weil sie Sie liebt und alles tun würde, was Sie ihr vorschlagen!“
Der Direktor sah mich lange an. „Und das alles muß so ein kleines Mädchen, das meine Tochter sein könnte, mir erzählen“, sagte er zuletzt. „Ich glaube tatsächlich, es ist etwas dran. Ich habe vielleicht etwas versäumt – etwas, was eigentlich meine Pflicht gewesen wäre…“
„Dann holen Sie es doch nach!“ rief ich.
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