Nur ein Katzensprung
weitergekommen?“
„Nicht wirklich. Sie hatte sowohl Beruhigungs- als auch Aufputschmittel genommen, behauptete sie wenigstens. Sie stand leicht neben sich. Jedenfalls hat sie Kelvin beträchtlich unter Druck gesetzt. Sie hat bedingungslosen Erfolg von ihm erwartet, eventuell den Erfolg, den sie selbst nie hatte.“
Ollner bestrich sein Brötchen mit Orangenmarmelade und sagte, ohne Kofi anzuschauen: „Wir müssen die Möglichkeit stärker berücksichtigen, dass er in ein fremdes Auto gestiegen sein könnte, in irgendein beliebiges, das zufällig vorbeikam.“
Kofi antwortete nicht, sondern beschäftige sich eingehend mit seinem Ei und dem Salzstreuer. Später sagte er: „Könnte es sein, dass ein Pädophiler wusste, dass der Bus gegen 18 Uhr zurückkommen würde?“
„Du meinst, er hat irgendwo gewartet und sich ein Kind geschnappt.“
„Es ist immer so, ich glaube nicht, dass ich es in meiner Zeit beim Judo oder beim Fußball erlebt habe, dass alle Eltern pünktlich aufgetaucht sind, um ihre Kinder abzuholen. Meine Trainer haben manchmal ’ne halbe Stunde oder länger gewartet. Hin und wieder haben sie sogar jemanden nach Hause gefahren.“
Ollner wackelte zustimmend mit dem Kopf. „Die Fahrt war bestimmt in der Zeitung oder zumindest vereinsintern angekündigt. Aber wenn es so war, wie sollen wir den Kerl dann ausfindig machen?“
Kofi sah ihm ins Gesicht, zuckte mit den Schultern und widmete sich seiner letzten Brötchenhälfte.
Nachdem sie schweigend ihr Frühstück beendet hatten, fragte Ollner: „Wie wollen wir weitermachen? Mit dem Vater aus Hildesheim?“
„Der Junge kann doch nicht einfach so aus dem Stadtzentrum verschwinden, ohne dass jemand etwas bemerkt. Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Vielleicht sollten wir die Zeitung um einen Zeugenaufruf bitten.“ Kofi merkte, dass er wieder ‚der Junge‘ gesagt hatte. Das war einfacher. Wenn er Kelvin sagte und dachte, wurde alles persönlicher, wurde aus der abstrakten, gesuchten Person ein Mensch mit Hoffnungen und Ängsten. Ein sehr kleiner Mensch. Schwach und hilflos. Verängstigt.
„Ich habe Frau Jänicke vor der Presse gewarnt.“
Ollner sah ihn fragend an.
„Wegen Mausigs Pressekonferenz. Sobald die vorbei ist, werden die Foto- und Schlagzeilenjäger bei ihr auftauchen.“ Kofi mochte sich nicht vorstellen, was sich abspielen würde, wenn der Siebenjährige verschwunden blieb oder wenn sie gar seine Leiche fanden. „Aber ich glaube, sie hat mich nicht verstanden.“ Insgeheim überlegte er, ob sie den Medienrummel vielleicht sogar begrüßen würde, weil sie glaubte, daraus Kapital schlagen zu können?
Ollner räusperte sich. „Ich habe mal die Dateien gecheckt. Wir haben vierzehn verurteilte Sexualstraftäter in der Stadt und im Landkreis Holzminden. Einige sind seit Jahren unauffällig. Zwei sind weit über siebzig, aber eine interessante Information habe ich doch gefunden. Gegen Detlef Hanske, unseren Judotrainer, sind zweimal Anzeigen wegen sexueller Belästigung erstattet worden. Eine vor mehr als zehn Jahren, die andere unmittelbar vor seinem Umzug nach Holzminden.“
„Ach nee!“ Mit kurzen Worten schilderte Kofi seine Begegnung mit Hanske am Morgen.
„Er wird den Jungen kaum mit nach Hause genommen und dort in den Keller gesperrt haben, oder?“
„Ich hätte ihn wegen der lauten Musik jedenfalls weder rufen noch klopfen hören können. Aber du hast recht, ich glaube auch nicht, dass er wirklich den Jungen vor mir verstecken wollte. Er hat ihn nachweislich als Letzter gesehen und versteckt ihn in seinem eigenen Haus. Das wäre selten dämlich.“
„Man hat schon Pferde und so … Deswegen sollten wir ihn trotzdem im Auge behalten.“
„Okay, ich zahle heute, dafür fährst du.“
„Wohin?“
„Ich denke, wir sollten die anderen dreizehn aus deiner Datei überprüfen. Anschließend fahren wir nach Hildesheim, wenn Herr Jänicke sich bis dahin nicht bei uns gemeldet hat.“
Ollner nickte.
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Holzminden
Montag, 31. Oktober 2011
gegen Mittag
8
„Mannomann, Opa, das ist eine Schnellstraße, nicht der Parkstreifen.“ Sie fuhr viel zu dicht auf, das wusste sie. Trotzdem. Sie hupte, setzte den Blinker und überholte, obwohl von vorn ein VW-Bus kam. Die durchgezogene Mittellinie ignorierte sie genauso wie den Vogel, den der Fahrer des Busses ihr zeigte, während er nach rechts auf den Standstreifen auswich. „Stell dich nicht
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