Nur ein Katzensprung
Morgen haben wir alle unsere üblichen Arbeiten erledigt. Stella hatte einen Termin im Finanzamt, Irene, du warst mit den Beckers bei den Lagerhallen, und ich war beim Amtsgericht.“
„Kaffee trinken mit deinem Spezi Wenzig“, vermutete Stella.
Oliver ignorierte sie. „Leon kommt normalerweise gegen acht, halb neun mit dem Fahrrad. Ich bin um halb elf hier eingetroffen.“
„Und ich Punkt zwölf“, sagte Stella.
„Sein Fahrrad stand nicht unten“, erinnerte sich Irene.
„Genau. Deshalb haben wir versucht, in sein Zimmer zu gucken.“
„Er hasst das“, sagte Irene erschrocken.
Oliver zuckte mit den Schultern. „Es war abgeschlossen.“
„Natürlich, Leon schließt immer ab.“
„Von innen.“
„Wie meinst du das?“
„Der Schlüssel liegt nicht in deinem Schreibtisch!“
Erschrocken schaute Irene ihn an. „Wieso nicht?“ Sie sprang auf. „Das muss ich überprüfen.“ So ein Mist, sie hatte den Schlüssel eingesteckt und am Freitag mit nach Hause genommen. Sie hatte keine Lust mehr gehabt, nach der späten Besichtigung noch einmal in die Firma zurückzukehren. Das war streng verboten. Konnte sie ahnen, dass Oliver in ihrem Schreibtisch nachgucken würde? Eigentlich schon. Sie hätte wissen müssen, dass er die Gelegenheit nutzen würde. Es wurmte ihn schon lange, dass Leon sein Büro stets verschlossen hielt und außer ihr selbst niemanden hinein ließ. Er empfing alle Kunden im Besprechungszimmer und suchte Oliver und Stella in ihren Räumen auf, wenn er sie sprechen wollte.
Sie zog eine Schublade auf und schob die anderen Schlüssel, die in dem Fach waren, suchend hin und her. Mit der Linken umklammerte sie den zu Leons Büro. Sie bückte sich tiefer, zog die unterste Schublade auf und seufzte laut. „Hier liegt er doch.“
Oliver und Stella waren ihr gefolgt, allerdings nur bis zur Tür zu ihrem Büro. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie ihr Manöver durchschaut hatten. Jedenfalls sagten sie nichts.
„Wollen wir?“
„Du musst vorgehen.“
Stella zeigte mit dem ausgetreckten Zeigefinger auf Irene. „Du bist die Einzige, die sein Büro außer ihm in den letzten Wochen betreten hat. Nur du kannst erkennen, ob etwas nicht stimmt.“
Irene drehte sich um und ging zu Leons Büro. Die Tür ließ sich ganz normal aufschließen und öffnen. Sie ging über die Schwelle und schaute sich verwirrt um. Es sah aus, als hätte eine Horde Paviane eine stürmische Party gefeiert. Papiere, Ordner und Stifte lagen durcheinander auf dem Boden. Der Schreibtischstuhl lag unter dem Fenster.
Irene ging in den Raum und bückte sich nach Leons Kalender. Oliver packte sie am Arm. „Nicht, besser du fasst nichts an.“
„Wer war das?“
Stella verdrehte die Augen. „Woher sollen wir das wissen? Aber aus deiner Reaktion schließe ich, dass es hier normalerweise nicht so aussieht.“
„Natürlich nicht. Was denkst du denn?“
Oliver zog sie vollständig aus Leons Büro heraus. „Dann müssen wir die Polizei benachrichtigen. Für mich sieht das nach einem Einbruch aus.“ Er zögerte kurz. „Oder auch danach, dass Leon einen Besucher hatte, mit dem er nicht zurechtkam.“
„Was soll das heißen?“ Irene sah ihn wütend an.
„Ich weiß es auch nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass hier etwas verflucht faul ist.“
9
Irene hatte es im Besprechungszimmer nicht länger ausgehalten. Oliver und Stella schwiegen sich an. Beide tranken eine Tasse Kaffee nach der anderen. Von Zeit zu Zeit warf Stella ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, so als wäre Irene schuld daran, dass Leon verschwunden war, so als hätte sie sein Zimmer verwüstet.
Sie stand unten vor der Haustür. Trotz der Sonne fröstelte sie. Warum brauchte die Polizei so lange?
„Dürfen wir mal vorbei?“ Als der Mann sie ansprach, erschrak sie.
„Oh, guten Tag, ich bin Irene Rugenstein, ich arbeite bei Dospasos und wollte Sie nach oben begleiten.“ Sie musterte die beiden Polizeibeamten. Sie trugen Uniformen, die aussahen, als hätten sie darin geschlafen, beide sahen müde aus.
„Herbert Heinrich, guten Tag, haben Sie uns angerufen?“
„Einer meiner Chefs, Oliver Nussbaum, er wartet oben auf Sie.“ Irene hielt den Beamten die Tür auf.
„Ich dachte, Ihr Chef wird vermisst“, wunderte sich Herbert Heinrich.
Irene lachte leise. „Ich habe drei Chefs. Vermisst wird nur einer. Leon Scharfetter. Er hat die Firma gegründet.“
Oliver stand bereits oben in der Tür. Er ging mit ausgestreckter Hand und seinem
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