Nur ein Kuss von dir
sie heiraten wollte.
Nun wurde ihr bewusst, dass sie betrogen worden war. Dass er mit ihr davonlaufen wollte, um der Pest zu entkommen. Und als sie das ablehnte, wollte er offenbar alleine vor der Pest fliehen, als er gefasst und zurück nach Hause gebracht wurde. Zurück zu dem Mädchen, das ihm wahrscheinlich die Krankheit übertragen hatte. Nun waren sie eingeschlossen und konnten zusammen sterben.
Sie dachte, sie würde an dem Schmerz in ihrem Herzen sterben. Wie hatte dies geschehen können? Wie konnte der Mann, den sie aus tiefster Seele liebte, ihr das antun? Sie taumelte von dem Geschehen hinter dem Fenster fort, rannte los, ohne nachzudenken, wollte nur weit weg. Sie rannte bis zum Kai. Dort blieb sie stehen, schnappte nach Luft und starrte in das trübe Wasser.
Als sie ihre begrenzten Möglichkeiten bedachte, rieselte ihr das kalte Grauen durch die Adern.
Sie wusste noch nicht, ob er auch ihr die Pest gegeben hatte. Aber wenn es stimmte, würde sie ihre ganze Familie anstecken: ihre geliebten Eltern, die kleinen Schwestern. Das kam nicht in Frage. Sie konnte auch nicht riskieren, irgendjemand wissen zu lassen, dass die Pest vielleicht in ihr steckte, denn dann würde unausweichlich ihre ganze Familie eingeschlossen. Also konnte sie auch niemanden um Hilfe bitten.
Sie blickte zur vertrauten Fassade von St. Paul’s hoch, wo sie nun nicht verheiratet würde, und machte sich klar, dass ihr nur eine einzige echte Möglichkeit blieb.
Sie riss sich den Reif vom Arm, suchte auf dem rohen Boden nach einem geeigneten Stein und kratzte und kratzte an der Gravur herum, bis sie so verändert war, wie sie wollte. Das Latein war nicht völlig korrekt, aber ihr genügte es.
Sie streifte den Armreif wieder über ihr Handgelenk, stand dann da und sah sich um, verabschiedete sich schweigend. Dann schlang sie den schweren Wollumhang fest um sich und trat über die Kante des Kais. Als das kalte Wasser des Fleet sich wieder über ihr schloss, dachte sie ihren letzten Wunsch: Er sollte so lange leiden, bis jemand bereit war, alles für ihn zu opfern.
Zwei Tage später lieferte der Leichenkarren erneut eine Karre voller Verstorbener bei der hastig ausgehobenen Pestgrube auf dem Gelände der St. Brides Church an. Mit Tüchern über dem Mund arbeiteten die Männer schnell, kippten Reich und Arm zusammen und machten sich nicht die Mühe, nach irgendwelchen Lebenszeichen zu suchen. Sie waren doch sowieso alle totgeweiht. Als sie dann die Leichen mit ungelöschtem Kalk bestreuten, fing die Sonne das Feuer im Stein des Armreifs eines Mannes ein, zum letzten Mal, bevor er für immer verschwand. Der kleine Fluss, der durch die faulige Erde stieg, wirbelte um ihn herum, und mit seinem letzten Atemzug fand das Wasser einen Weg in seine Lunge. Im Dunkel der Grube und in den trüben Tiefen des Fleet setzten die beiden Amuletts ihren letzten Wunsch in einem viel größeren Ausmaß in Bewegung, als sie beabsichtigt hatte. Sie hatten ihr erstes Opfer, den Ersten, der unaufhörlich auf der Suche nach dem war, was nun in ihr Amulett graviert war. Nur einen Buchstaben hatte sie entfernt und einen – sehr schwach – hinzugefügt, doch das war genug.
Mors memoriae
stand nun da – Tod der Erinnerung, nicht Liebe der Erinnerung. Das würde Arthurs Strafe sein. So lange, bis er und seinesgleichen durch die Liebe eines Menschen befreit werden konnten, die stark genug war. Das Warten hatte begonnen.
Über Sue Ransom
S. C. Ransom arbeitet als Headhunterin in London, doch auf dem Weg ins Büro und an den Abenden ist sie Schriftstellerin. Ihr erster Roman ›Nur ein Hauch von dir‹ war ein Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter und entstand zu großen Teilen unterwegs auf ihrem Smartphone. S. C. Ransom lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Surrey, England.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerschatzinsel.de
Impressum
Coverabbildung: Paul Hudson / Getty Images und Archiv Geviert (London)
Fischer Schatzinsel
ist das Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage
www.fischerschatzinsel.de
Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Scattering Like Light‹ bei Nosy Crow Ltd, London
Text copyright © S. C. Ransom
This translation is published by arrangement with Nosy Crow Limited
Für die deutschsprachige Ausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Lektorat: Regine
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