Nur Ein Toter Mehr
Sekretärin, die ich brauche!«, rufe ich euphorisch. »Wenn du dir jetzt noch angewöhnen könntest, von Figur zu reden statt von einem Menschen …« Ich will schon die Feder ansetzen, lasse sie dann aber wieder entmutigt sinken. »Leider ist das immer noch nicht der ideale Romananfang.«
Koldobike tritt hinter mich. Sie ist auf einmal ganz ernst.
»Was hat ein Ort davon, wenn nach zehn Jahren ein Verbrechen noch einmal aufgerollt wird, das …«
»Perfekt!«, schneide ich ihr voller Begeisterung das Wort ab. Das Kratzen des Füllers ist wahrlich Musik in meinen Ohren.
»Was schreibst du da?«
»Na, deinen perfekten Anfang … er gibt den Tonfall vor … und auch alles Weitere, so wie beispielsweise meinen Satz:
Es starben jedoch nicht alle beide. Eladio kam gerade noch einmal mit dem Leben davon.
«
Gerade will ich mich wieder über das Papier beugen, da unterbricht sie mich erneut.
»Hast du dir eigentlich schon einen Namen für mich ausgedacht?«
»Du bleibst Koldobike«, erwidere ich resolut. »Dein Name klingt hochtrabend genug.«
»Koldobike also …« Eine weitere Pause, die sie wahrscheinlich braucht, um sich in ihre neue Rolle hineinzudenken. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich heute früh meinen anderen Rock angezogen und nicht diesen, der gar nicht richtig gebügelt ist. Der andere ist blau, weißt du, und hat ganz viele kleine Falten, und er geht bis zum …«
»Du musst ihn mir nicht beschreiben«, falle ich ihr ins Wort. »Ich schreibe einzig und allein das auf, was ich sehe. Sonst ist es ja wieder bloß ein bescheuerter fiktionaler Text.«
»Ein die Realität nachahmender Schriftsteller braucht nicht gleich ›alles‹ zu erzählen, was er sieht, das heißt, auch nicht den ungebügelten Rock, den du hoffentlich verschwiegen hast. Und wenn ich jetzt nach Hause gehen würde und mit dem anderen Rock wiederkäme, dann würdest du ihn doch sehen, oder nicht? Du könntest also zum Beispiel schreiben:
Koldobike verließ die Buchhandlung und erschien kurz darauf wieder in ihrem akkurat gebügelten, blauen Faltenrock.
Auf den Leser wirkt das dann so, als hätte Koldobike schon den ganzen Tag einen gebügelten Rock getragen.«
»Nein, niemals! Wenn ich das jetzt so festhalte, wende ich ja gleich einen der Taschenspielertricks an, wie man einen realistischen Roman verfasst.«
»Dann komme ich von nun an jeden Tag im Brautkleid zur Arbeit.«
»Fällt es dir so schwer, einfach die zu sein, die du bist?«
»Trittst
du
etwa als der auf, der du bist?«
Sprachlos starre ich sie an, sodass Koldobike mir zu Hilfe kommt.
»Und es gibt ja auch noch einen Dritten, der auch nicht der ist, der er zu sein scheint.« Sie nimmt ein Blatt Löschpapier und trocknet damit vorsichtig den Tintenklecks, der aus meinem Füller getropft ist. »Ich hoffe für dich nur, dass du ihn des Mordes überführst, ehe
du
ihm in die Hände fällst, Sam Esparta.«
3 Den Krabben wird’s schmecken
Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, als ich am nächsten Morgen den Strand ablaufe und nach dem verdammten Päckchen Ausschau halte, das ich am Vortag ins Meer geschleudert habe. Doch es ist nirgends zu entdecken, die Gezeiten haben es nicht wieder ausgespuckt.
Das Schicksal scheint meinen Entschluss also zu billigen: Ich will Lucio Etxe abpassen, der Tag für Tag mit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen ist, um nachzusehen, was die Wellen über Nacht alles an Land gespült haben. Neben den Erträgen von einem kleinen Acker lebt seine Familie nämlich ausschließlich von dem, was das Meer ihnen schenkt. Wertvolle Schätze sind allerdings bisher noch nie dabei gewesen, weder ein glänzendes Medaillon noch eine Kiste voll alter Goldmünzen, aber vielleicht hoffen sie ja auch, dass die Flut irgendwann das anschwemmt, was sie am nötigsten haben: eine Frau. Den Etxes bleiben die Frauen nämlich nie lange erhalten, sie sterben immer früh. Doch leider ist dies ein Traum, der täglich aufs Neue zerbricht, denn das Meer gibt nur Leichen her.
Ich fürchte schon fast, Etxe ist mir zuvorgekommen, als ich eine kleine Gestalt im Morgendunst erblicke, die langsam näher kommt, aber einen großen Bogen um mich zumachen scheint, sodass ich quer über den Strand laufen muss, um mich ihr in den Weg zu stellen. Notgedrungen bleibt der schmächtige Kerl stehen, die Augen hält er jedoch gesenkt.
»Hat man dich aus dem Bett geworfen?«, begrüße ich ihn forsch, schimpfe mich aber gleich innerlich und bemühe mich deshalb um einen milderen
Weitere Kostenlose Bücher