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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramiro Pinilla
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das bislang verschwiegen? Haben Sie vielleicht absichtlich getrödelt?«
    »Was willst du damit sagen?« Unwillkürlich ist er zurückgewichen. »Ich hatte nichts gegen die Altube-Brüder! Ich habe einem sogar das Leben gerettet! Ich will mich nur nicht erinnern müssen, weil es so entsetzlich war.«
    Meine Idole würden sich nun wahrscheinlich eine Zigarette anstecken und warten, bis Etxes innere Erregung abgeklungen ist, um ihn nicht noch mehr zu erschreckenund dann vielleicht nichts mehr aus ihm herauszukriegen. Da ich nicht rauche, zeichnet Samuel Esparta mit der Spitze seines linken Schuhs Kreise in den Sand. Und tatsächlich: Nach einer Weile bekommt Lucio Etxe den Mund wieder auf.
    »Wir sind zu dritt zum Strand runtergerannt, ich vorneweg, um die Zallas zur Eile anzutreiben. Macht das jemand, der es drauf anlegt, zu spät zu kommen?«
    »Bevor Sie weitersprechen, lassen Sie uns doch auf Apraiz’ Felsen hochsteigen«, schlage ich sanftmütig vor.
    Etxe ist deutlich anzumerken, dass er nichts von der Tatortbesichtigung hält. Zwar trottet er stumm neben mir her, doch ist es gut möglich, dass er es jeden Moment bereut und kehrtmacht, denn er wird immer langsamer, je näher wir der Klippe kommen, die sich, umgeben von kleineren Felsbrocken, vor uns erhebt und nur sanft von den ersten Wellen der nächsten Flut umspült wird.
    »Ich war nie wieder so nah dran«, höre ich Lucio Etxe verschreckt nuscheln, als ich vor ihm über die mit grünem Moos überzogenen Steine kraxele, wo ich mit meinen glatten Sohlen nur schwer das Gleichgewicht halten kann.
    Kurz darauf streichen meine Finger über den rostigen Ring, der in das untere Drittel der Klippe einzementiert ist.
    »Wer hat eigentlich die Ketten abgemacht?«
    »Wie … abgemacht?«, keucht Etxe hinter mir. »Keine Ahnung … um die haben wir uns nicht gekümmert.«
    »Dann hat sicher der Richter jemanden geschickt, um sie zu konfiszieren.«
    »Wahrscheinlich. Jedenfalls waren sie am nächsten Morgen nicht mehr da.«
    »Und womit waren die Ketten an …?«
    »Mit einem Vorhängeschloss. Einem ziemlich großen.«
    »Zwei Schlösser, meinen Sie.«
    »Nein, es war nur eins.«
    Ungläubig schüttele ich den Kopf. »Es müssen aber zwei gewesen sein: eins für jede Kette. Und der arme Leonardo hing an der kürzeren.«
    »Nein, es war nur eine einzige lange Kette. Durch die Strömung hatte sie sich zu einem Knäuel aufgewickelt, und an deren Enden hingen die beiden.«
    »Und wie war diese eine Kette an ihren Hälsen befestigt?«
    »Mit Vorhängeschlössern. Zwei kleineren.«
    »Das heißt also, Zalla musste drei Schlösser aufsägen.«
    »Nein, nur zwei Kettenglieder«, erklärt Etxe hastig. Man merkt seiner Stimme an, dass er es eilig hat, fortzukommen. »Auch wenn es sich nur bei einem gelohnt hat.«
    »Hm.« Nachdenklich nicke ich, während ich mich zu ihm umdrehe. »Hat Eladio Ihnen eigentlich für Ihr beherztes Eingreifen gedankt?«
    »Nicht sofort. Anfangs war er ja mehr tot als lebendig. Er hat am ganzen Körper gezittert und seinen Bruder nur fassungslos angestarrt. Irgendwann brach er dann in Tränen aus und heulte nur noch Rotz und Wasser. Und das tagelang. ›He, aber du lebst, du hast überlebt!‹, versuchte man ihn zu trösten. Er aber knurrte immer nur: ›Dieses Arschloch, dieses verdammte Arschloch!‹ und verriet selbst dem Richter nicht, wen er damit meinte, so viel Schiss hatte er.«
    »Und wann dann?«
    »Was, wann dann?«
    »Wann er sich dann bedankt hat.«
    »Vielleicht einen Monat später, auf der Straße. ›Gott bewahre dir dein Gehör‹, sagte er feierlich und klopfte mir kräftig auf die Schulter. Was ich bei einem Altube schon mal spaßig fand. Komischerweise kam mir dann auch noch ein Kunststückchen in den Sinn, das er mir einmal gezeigt hat: Die Arme an die Seiten gepresst, hatte er die Augen zusammengekniffen– und seine Ohren wackelten von ganz allein!«
    Darauf fällt mir nichts mehr ein, was aber sicher nicht weiter schlimm ist, denn die Arbeit eines Privatdetektivs beschränkt sich nicht nur auf das geschickte Verhör von Zeugen. Bedachtsam lege ich meinen Hut auf einen trockenen Stein und klettere dann hoch auf die Klippe, wo ich mich hinlege, die Füße nach unten Richtung Eisenring, um mich besser in die Lage der Zwillinge hineinversetzen zu können. Gerade frage ich mich, wie ich mich wohl an ihrer Stelle gefühlt hätte – da donnert eine Welle gegen den Felsen und spritzt bis hoch zu meinen Schuhen. Ruck, zuck bin ich auf

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