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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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mutiger und sprach ihn aus.
    »Sollen wir es noch fertig machen, damit unsere Namen richtig geschrieben sind?«
    Mir stockte der Atem. Meine Mutter warf meiner Schwester einen erbosten Blick zu. Dann brach sie in Gelächter aus. Meine Schwester brach in Gelächter aus. Und ich spuckte Hackbraten aus.
    Wir vollendeten unser Werk nicht. Auf dem Küchentisch stand weiterhin CHAR und ROBER. Mein Vater bekam natürlich einen Tobsuchtsanfall, als er nach Hause kam. Aber ich glaube, später, als wir schon längst nicht mehr in Pepperville Beach wohnten, fand meine Mutter Gefallen an der Tatsache, dass etwas von uns geblieben war, auch wenn ein paar Buchstaben fehlten.
     
     
    Jetzt saß ich an diesem alten Küchentisch und blickte auf die eingeritzten Buchstaben, und meine Mutter – oder ihr Geist oder wer auch immer das war – kam mit einem Antiseptikum und einem Waschlappen herein. Ich sah ihr zu, wie sie etwas von der Flüssigkeit auf den Waschlappen gab, dann nach meinem Arm griff und den Ärmel hochstreifte, als sei ich ein kleiner Junge, der gerade von der Schaukel gefallen war. Man könnte sich nun fragen, weshalb ich nicht kundtat, dass diese Situation aus vielerlei Gründen völlig undenkbar war; vor allem aber hätte ich wohl zuerst mal sagen müssen: »Mutter, du bist doch schon lange tot!«
    Ich kann dazu nur sagen, dass es für mich jetzt im Rückblick Sinn ergibt, aber damals nicht. Damals war ich so fassungslos darüber, meine Mutter wiederzusehen, dass ich nichts daran ändern wollte. Es war wie in einem Traum, und vielleicht hatte ein Teil von mir auch das Gefühl zu träumen, ich weiß nicht genau. Wenn man seine Mutter verloren hat, kann man sich jedenfalls kaum vorstellen, sie plötzlich so nahe bei sich zu haben, dass man sie riechen, sie berühren kann, nicht wahr? Ich wusste, dass wir sie begraben hatten. Ich erinnerte mich genau an die Beerdigung. Ich wusste noch, wie es sich anfühlte, eine Schaufel Erde auf ihren Sarg zu werfen.
    Aber als sie mir nun gegenübersaß und mir mit dem Waschlappen Gesicht und Arme abtupfte, angesichts meiner Verletzungen das Gesicht verzog und murmelte: »Schau dir das bloß an« – ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das machte mich schutzlos. Ich war lange keinem Menschen mehr so nahe gewesen. Niemand war zärtlich mit mir umgegangen. Doch meine Mutter streifte nun fürsorglich meinen Hemdärmel hoch. Ihr lag ich am Herzen; alles andere war ihr egal. Ich besaß nicht einmal mehr genug Selbstachtung, um am Leben bleiben zu wollen, aber sie betupfte meine Schnittwunden, und ich fiel zurück in meine Rolle als Sohn. Es war so einfach, wie abends aufs Kopfkissen zu sinken. Und ich wollte nicht, dass dieser Zustand wieder zu Ende ging. So lässt sich mein Benehmen noch am ehesten erklären. Ich wusste, dass die Situation eigentlich unmöglich war. Aber ich wollte nicht, dass sie ein Ende nahm.
    »Mama?«, flüsterte ich.
    Das hatte ich so lange nicht mehr gesagt. Wenn der Tod einem die Mutter raubt, stiehlt er auch dieses Wort für alle Zeiten.
    »Mama?«
    Eigentlich ist es nur ein Laut, ein Summen, das durch das Öffnen der Lippen unterbrochen wird. Aber es gibt Zillionen Wörter auf diesem Planeten, und kein anderes spricht man mit diesem Gefühl aus.
    »Mama?«
    Sie strich sanft mit dem Waschlappen über meinen Arm.
    »Charley.« Sie seufzte. »Was du immer alles anstellst.«

Als meine Mutter sich für mich einsetzte
    Ich bin neun Jahre alt und stehe in der Stadtbücherei. Die Frau hinter der Theke blickt über ihren Brillenrand. Ich habe mir 20 000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne ausgesucht. Mir gefällt das Bild auf dem Umschlag und die Vorstellung, dass Menschen unter dem Ozean leben. Ich habe nicht reingeschaut und weiß nicht, wie klein die Schrift ist und wie schwierig die Wörter sind. Die Bibliothekarin mustert mich eingehend. Mein Hemd hängt aus der Hose, und ein Schnürsenkel ist offen.
    »Das ist zu schwer für dich«, sagt sie.
    Ich sehe zu, wie sie das Buch hinter sich in ein Regal stellt. Es kommt mir vor, als würde sie es in einem Safe verschwinden lassen. Ich gehe in die Kinderabteilung zurück, suche mir ein Bilderbuch über einen Affen aus und gehe damit zur Theke zurück. Dieses Buch stempelt mir die Frau kommentarlos.
    Als meine Mutter mit dem Wagen vorfährt, hangle ich mich auf den Beifahrersitz. Sie sieht das Buch, das ich mir ausgesucht habe.
    »Hast du das nicht schon gelesen?«, fragt sie.
    »Die Dame wollte mir das Buch

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