Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
Eindruck schinden, wenn man einen Strand zu bieten hätte – obwohl es kein Meer dazu gab. Der Bursche wurde Mitglied der Handelskammer und sorgte sogar dafür, dass der Ortsname geändert wurde – von »Pepperville Lake« zu »Pepperville Beach« -, obwohl auf unserem »Strand« höchstens zwölf Familien Platz fanden und es nur eine Schaukel und eine Rutschbahn gab. Als Kinder machten wir immer Witze darüber und sagten: »Hey, wollen wir zum Strand gehen?« oder »Prima Wetter für einen Tag am Strand !«
    Das Haus meiner Eltern war jedenfalls nicht weit vom See – und vom »Strand« – entfernt, und meine Schwester und ich hatten es nach dem Tod meiner Mutter behalten, weil wir hofften, dass es irgendwann vielleicht mehr wert sein würde. Doch um ehrlich zu sein, brachte ich es einfach nicht übers Herz, es zu verkaufen.
    Nun ging ich so geduckt wie ein flüchtiger Sträfling auf dieses Haus zu. Ich hatte Fahrerflucht begangen, und inzwischen hatte sicher jemand meinen Wagen, den Laster, die umgestürzte Reklametafel und die Pistole entdeckt. Ich blutete, hatte Schmerzen und war nicht Herr meiner Sinne. Und ich rechnete damit, jeden Moment die Polizeisirenen zu hören – ein zusätzlicher Grund, meinem Leben jetzt ein Ende zu setzen.
    Ich stolperte die Verandatreppe hinauf und holte den Hausschlüssel unter einem Plastikstein im Blumenkasten hervor, wo wir ihn versteckt hatten (eine Idee meiner Schwester). Ich blickte mich nach allen Seiten um, und als ich weder Polizisten noch Nachbarn entdeckte, öffnete ich die Tür und trat ein.
     
     
    Im Haus roch es muffig und ein bisschen nach Teppichreiniger, als habe hier kürzlich jemand sauber gemacht (die Putzfrau, die wir beauftragt hatten?). Ich ging am Flurschrank und dem Treppengeländer vorüber, auf dem wir als Kinder immer heruntergerutscht waren, und trat in die Küche mit dem alten Kachelboden und den Kirschholzschränken. Dann machte ich den Kühlschrank auf, um nach irgendwas Alkoholischem Ausschau zu halten – das tat ich inzwischen mechanisch.
    Und fuhr zurück.
    Der Kühlschrank war voller Lebensmittel.
    Tupperdosen. Lasagnereste. Magermilch. Apfelsaft. Himbeerjoghurt. Ich überlegte kurz, ob sich womöglich ein Landstreicher hier eingenistet hatte, weil wir das Haus so lange vernachlässigt hatten.
     
     
    Ich öffnete einen der Küchenschränke. Lipton-Tee und eine Packung Schonkaffee. Im nächsten Schrank Zucker, Morton-Salz, Paprikapulver, Oregano. In der Spüle lag in frisch eingelassenem Spülwasser ein Teller. Ich griff danach und ließ ihn wieder sinken.
    Dann hörte ich etwas.
    Von oben.
    »Charley?«
    Und noch einmal.
    »Charley?«
    Die Stimme meiner Mutter.
    Mit nassen Händen rannte ich aus der Küche.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Ich bin sechs Jahre alt. Es ist Halloween, und die Schule veranstaltet ihren alljährlichen Halloween-Umzug, bei dem die Kinder durch die Straßen des Viertels marschieren.
    »Kauf ihm doch einfach ein Kostüm«, sagt mein Vater. »Im Five-and-dime gibt’s welche.«
    Doch nein, das ist mein erster Halloween-Umzug, und meine Mutter beschließt, mir selbst ein Kostüm zu basteln: »die Mumie«, meine Lieblingsgruselgestalt.
    Sie schneidet weiße Lappen und alte Handtücher in Stücke und steckt sie mit Sicherheitsnadeln an mir fest. Dann umwickelt sie mich mit Toilettenpapier, das sie mit Klebeband befestigt. Es dauert alles ewig, aber als sie fertig ist, schaue ich in den Spiegel, und eine Mumie blickt mir entgegen. Ich ziehe die Schultern hoch und schwanke hin und her.
    »Uuuh, bist du unheimlich«, sagt meine Mutter.
    Sie fährt mich zur Schule. Der Umzug beginnt. Doch als ich eine Weile gelaufen bin, lockern sich die Lappen. Nach zwei Straßen fängt es zu regnen an, und das Klopapier wird matschig. Die nassen Lappen sacken herunter und hängen mir bald an den Knöcheln, Handgelenken und am Hals, und man sieht mein Unterhemd und die Schlafanzughose, die meine Mutter als Unterwäsche praktischer fand.
    »Guck mal, wie Charley aussieht!«, kreischen die anderen Kinder und brechen in Gelächter aus. Ich laufe knallrot an und würde am liebsten im Erdboden versinken, aber ich kann nicht einfach weglaufen.
    An der Schule warten die Eltern mit Kameras. Ich bin ein nasses Häuflein Elend aus Lappen und Klopapierresten. Als meine Mutter mich sieht, schlägt sie die Hand vor den Mund. Ich breche in Tränen aus.
    »Du hast mein Leben ruiniert!«, schreie ich.
    Charley?«
    Am deutlichsten kann ich mich

Weitere Kostenlose Bücher