Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
obwohl ein Viertel davon fehlt.
    »Es ist bloß Mama«, sage ich tonlos.
    »Ho! Ho! Ho!«, macht meine Mutter.
    »Das stimmt nicht!«, protestiert Roberta.
    »Doch, es ist Mama. Der Weihnachtsmann ist doch keine Frau, du Doofi.«
    Ich leuchte meine Mutter weiterhin hartnäckig mit der Lampe an, und nun ändert sich ihre Haltung – sie scheint in sich zusammensacken, als sei sie ein Weihnachtsmann auf der Flucht, der von der Polizei verhaftet wird. Roberta fängt an zu weinen. Ich merke, dass meine Mutter mich eigentlich anbrüllen möchte, aber dann würde sie sich erst recht verraten. Sie starrt mich nur an, wie sie da steht mit ihrer Zipfelmütze und ihrem weißen Rauschebart, und ich spüre im ganzen Raum die Abwesenheit meines Vaters. Schließlich lässt meine Mutter den Sack mit den kleinen Geschenken auf den Boden fallen und stapft zur Tür hinaus, wobei sie noch ein letztes »ho, ho, ho« von sich gibt. Meine Schwester rennt laut schluchzend zurück in ihr Bett, und ich hocke allein mit meiner Taschenlampe auf der Treppe und blicke auf das leere Zimmer und den Weihnachtsbaum.

Rose
    W ir schlenderten weiter durch unsere alte Wohngegend. Inzwischen hatte ich mich irgendwie an diese – wie soll ich es nennen, vorübergehende Geistesgestörtheit? – gewöhnt. Ich würde meine Mutter so lange begleiten, bis meine jüngsten Taten mich einholten. Um ehrlich zu sein: Ein Teil von mir war ganz zufrieden mit diesem Zustand. Wenn man eine Begegnung mit verstorbenen Lieben hat, sträubt sich das Gehirn dagegen, nicht das Herz.
    Ihren ersten »Termin« hatte meine Mutter in einem kleinen Klinkerhaus in der Lehigh Street, zwei Straßen von unserem Haus entfernt. Auf der Veranda, die im Schatten eines Blechdachs lag, sah ich einen mit Kieseln angefüllten Blumenkasten. Die Luft war jetzt sehr kühl geworden, und das klare Licht ließ alle Konturen so seltsam scharf hervortreten wie auf einer Tuschezeichnung. Bislang hatte ich noch keinen weiteren Menschen erblickt, aber es war Vormittag, die meisten Leute arbeiteten vermutlich.
    »Klopf an«, sagte meine Mutter.
    Ich folgte ihrer Aufforderung.
    »Sie ist schwerhörig. Lauter.«
    Ich schlug mit den Knöcheln an die Tür.
    »Noch mal.«
    Jetzt hämmerte ich förmlich an die Tür.
    »Nicht so fest«, sagte meine Mutter nun.
    Zu guter Letzt ging die Tür auf, und eine alte Frau im Morgenmantel stand vor uns. Sie hatte eine Gehhilfe vor sich und verzog das Gesicht zu einem verwirrten Lächeln.
    »Guten Morgen, Rose«, trällerte meine Mutter. »Heute bringe ich einen jungen Mann mit.«
    »Oooh«, erwiderte Rose. Ihre Stimme war so dünn und hoch, dass ihre Laute an Vogelgezwitscher erinnerten. »Ja, das sehe ich.«
    »Erinnerst du dich noch an meinen Sohn Charley?«
    »Ooooh. Ja. Gewiss.«
    Rose trat beiseite. »Kommt herein. Kommt herein.«
    Das Haus war winzig und ordentlich. Seit den siebziger Jahren schien sich hier nichts mehr verändert zu haben. Der Teppichboden war marineblau. Über den Sofas lagen Schutzhüllen aus Plastik. Wir folgten Rose in die Waschküche. Es war ein langsamer Marsch, denn Rose kam mit ihrer Gehhilfe nur mühsam vorwärts.
    »Geht es dir gut heute, Rose?«, fragte meine Mutter.
    »Ooooh, ja. Jetzt, wo du da bist.«
    »Erinnerst du dich noch an meinen Sohn Charley?«
    »Ooooh, ja. Hübscher Bursche.«
    Sie kehrte mir gerade den Rücken zu.
    »Und wie geht es deinen Kindern, Rose?«
    »Wie bitte?«
    »Deine Kinder? Wie geht es ihnen?«
    »Ooooh.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schauen ein Mal in der Woche nach mir. Eine lästige Pflicht.«
    Ich wusste nicht recht, was oder wen ich nun hier vor mir hatte. War Rose eine Erscheinung? Oder war sie real? Die Umgebung wirkte real auf mich – die Heizung lief, es roch nach Toast vom Frühstück. Wir kamen in die Waschküche, wo ein Stuhl ans Waschbecken gerückt war. Aus dem Radio ertönte Big-Band-Musik.
    »Würden Sie das abschalten, junger Mann?«, sagte Rose, ohne sich umzudrehen. »Das Radio. Ich drehe es manchmal zu laut auf.«
    Ich drehte an dem Lautstärkeknopf.
    »Habt ihr das gehört? Schrecklich, nicht wahr?«, sagte Rose. »Ein schwerer Unfall auf der Autobahn. Haben sie in den Nachrichten gebracht.«
    Ich erstarrte.
    »Ein Pkw ist mit einem Laster zusammengestoßen und hat ein großes Reklameschild umgefahren. Schrecklich.«
    Ich sah gespannt meine Mutter an, rechnete damit, dass sie mir nun ein Geständnis abverlangen würde. Was hast du angerichtet, Charley? Raus mit der

Weitere Kostenlose Bücher