Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
Mutter. »Aber die anderen Mädchen waren auch sehr gut.«
    »Ach, schsch, Liebes. Lass mich doch prahlen. Deine Mutter, Charley, hatte immer Zeit für mich. Und als es zu mühsam für mich wurde, in den Salon zu gehen, kam sie zu mir nach Hause, jede Woche.«
    Sie legte ihre zittrigen Finger auf den Unterarm meiner Mutter.
    »Danke, Liebes, dafür.«
    »Gerne, Rose.«
    »Und wie schön du warst.«
    Meine Mutter lächelte, und ich fragte mich, wie sie nur so stolz darauf sein konnte, jemanden in einem Waschbecken die Haare zu waschen.
    »Du solltest Charleys Töchterchen sehen, Rose«, sagte meine Mutter. »Da wir gerade von Schönheit reden. Sie ist eine Herzensbrecherin.«
    »Ach, wirklich? Wie heißt sie denn?«
    »Maria. Und, ist sie nicht eine Herzensbrecherin, Charley?«
    Was soll ich dazu sagen? Die beiden haben sich zuletzt an dem Tag gesehen, als meine Mutter starb, vor acht Jahren, als Maria noch ein Teenager war. Soll ich meiner Mutter wirklich erzählen, was seither passiert ist? Dass ich nichts mehr weiß vom Leben meiner Tochter? Dass sie einen neuen Nachnamen hat? Dass ich nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen wurde, weil ich so heruntergekommen war? Früher liebte sie mich von Herzen. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, rannte sie mit ausgestreckten Ärmchen auf mich zu und rief: »Nimm mich auf den Arm, Papi!«
    Was war geschehen?
    »Maria schämt sich meiner«, murmelte ich schließlich.
    »Ach, Unsinn«, erwiderte meine Mutter.
    »Du verstehst das nicht.«
    Sie verrieb Shampoo zwischen den Händen und blickte zu mir herüber. Ich schaute zu Boden. Ich sehnte mich wie verrückt nach einem Drink, spürte den Blick meiner Mutter, hörte, wie sie Roses Kopfhaut massierte. Ich schämte mich im Angesicht meiner Mutter für vielerlei, aber dass ich ein schlechter Vater gewesen war, fand ich am allerschlimmsten.
    »Weißt du was, Rose?«, sagte meine Mutter unvermittelt. »Ich durfte Charley nie die Haare schneiden. Kannst du dir das vorstellen? Er bestand darauf, zum Friseur zu gehen.«
    »Aber warum denn, Liebes?«
    »Ach, du weißt schon. Wenn sie in einem bestimmten Alter sind, heißt es nur noch: ›Verschwinde bloß, Mama.‹«
    »Dann finden Kinder ihre Eltern peinlich.«
    »Dann finden Kinder ihre Eltern peinlich«, wiederholte meine Mutter.
    Das stimmte, ich hatte in meiner Jugend meine Mutter wirklich auf Abstand gehalten. Ich wollte im Kino nicht neben ihr sitzen. Ich entzog mich ihren Umarmungen. Ihre weibliche Figur war mir unangenehm, und ich war wütend auf sie, weil sie die einzige geschiedene Frau weit und breit war. Ich wünschte mir, sie wäre wie die anderen Mütter, die Hauskleider trugen, Fotoalben gestalteten und Brownies buken.
    »Manchmal muss man sich von den eigenen Kindern die wüstesten Sachen anhören, nicht wahr, Rose? Sodass man sich wirklich fragt, ob man mit diesen Wesen verwandt sein kann.«
    Rose kicherte.
    »Aber meist leiden die Kinder dann unter irgendetwas«, fuhr meine Mutter fort, »und versuchen, damit fertig zu werden.«
    Sie schaute zu mir herüber. »Vergiss das nicht, Charley. Manchmal wollen einem die Kinder die Schmerzen zufügen, unter denen sie selbst leiden.«
    Anderen Schmerzen zufügen, weil man selbst darunter leidet? Hatte ich das getan? Hatte ich meine eigene Verletztheit, die durch die Ablehnung meines Vaters entstanden war, in ihrer Miene sehen wollen? Und hatte meine Tochter sich wiederum mir gegenüber so verhalten?
    »Ich hab es nicht so gemeint, Mama«, flüsterte ich.
    »Was?«
    »Dass du mir peinlich warst. Wegen deiner Art oder deiner Kleider oder... deiner Situation.«
    Meine Mutter wusch das Shampoo von ihren Händen und spülte Roses Haare aus.
    »Ein Kind, dem seine Mutter peinlich ist«, sagte sie schließlich, »hat einfach noch nicht genug Lebenserfahrung.«
    Im Nebenraum hörte ich eine Kuckucksuhr schlagen. Meine Mutter ging nun mit Kamm und Schere zu Werke.
    Das Telefon klingelte.
    »Charley, mein Lieber«, sagte Rose, »ob du wohl für mich abnehmen könntest?«
    Ich ging hinaus und folgte dem Klingeln, bis ich an der Wand vor der Küche das Telefon entdeckte.
    »Hallo?«, meldete ich mich.
    Und alles veränderte sich.
    »CHARLES BENETTO?«
    Eine Männerstimme, die mir ins Ohr schrie.
    »CHARLES BENETTO? HALLO, HöREN SIE MICH, CHARLES?«
    Ich erstarrte.
    »CHARLES? ICH WEISS, DASS SIE MICH HöREN! CHARLES! ES HAT EINEN UNFALL GEGEBEN! REDEN SIE MIT UNS!«
    Mit zitternden Händen legte ich auf.

Als meine Mutter sich für

Weitere Kostenlose Bücher