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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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ausfallen lassen. Man muss kommen.«
    »Sagt wer?«
    »Die Trainer und alle.«
    »Ich will aber! Ich will ein Eis!«, warf Roberta ein.
    »Nur ein ganz schnelles?«, fragte meine Mutter.
    »Puh! Nein, ich hab’s doch schon gesagt!«
    Ich hob den Kopf und schaute sie an. Und sah etwas, das ich wohl noch nie zuvor gesehen hatte. Meine Mutter sah einsam und verloren aus.
    Später erfuhr ich, dass sie entlassen worden war. Dass Kollegen die Meinung geäußert hatten, sie lenke die Ärzte von der Arbeit ab, seit sie alleinstehend war. Dass es irgendeinen Vorfall mit einem Arzt gegeben und meine Mutter sich über unangemessenes Betragen beschwert hatte. Ihre Belohnung dafür, dass sie sich verteidigte, bestand darin, dass man ihr mitteilte, das »Arbeitsverhältnis sei nicht mehr befriedigend«.
    Und das Seltsame war: Ich wusste all das schon in dem Augenblick, in dem ich ihr in die Augen sah. Nicht die Einzelheiten natürlich. Aber ich wusste, wie einem zumute war, wenn man sich einsam und verloren fühlte. Und ich verachtete sie, weil sie in diesen Zustand geraten war. Ich verachtete sie, weil sie ebenso schwach war wie ich.
    Ich stieg aus und sagte: »Ich will kein Eis. Ich gehe zum Training.« Als ich über die Straße ging, rief meine Schwester mir nach: »Sollen wir dir eine Portion mitbringen?«, und ich dachte: Du bist so dämlich, Roberta. Eis schmilzt doch.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Sie hat meine Zigaretten gefunden. In der Strumpfschublade. Ich bin vierzehn Jahre alt.
    »Das ist mein Zimmer!«, schreie ich.
    »Charley! Wir haben doch darüber gesprochen! Ich habe dir gesagt, du sollst nicht rauchen! Das ist schrecklich! Was ist los mit dir?«
    »Du bist eine Heuchlerin!«
    Sie erstarrt. »So was sagst du nicht zu mir.«
    »Du rauchst doch selbst! Du bist eine Heuchlerin!«
    »Das sagst du nicht zu mir!«
    »Und wieso nicht, Mama? Ich sollte doch immer große Worte benutzen in meinen Sätzen. Das ist so ein Satz. Du rauchst. Ich darf nicht. Meine Mutter ist eine Heuchlerin!«
    Ich bewege mich im Zimmer umher, während ich sie anschreie, und die Bewegung verschafft mir Sicherheit, Kraft, als könne sie mich nicht erwischen, um mich zu schlagen. Sie hat inzwischen eine Stelle im Schönheitssalon angenommen, und statt ihrer Schwesterntracht trägt sie nun modische Kleidung zur Arbeit – an diesem Tag eine Caprihose und eine türkisfarbene Bluse. Kleidung, die ihre Figur betont und die ich grässlich finde.
    »Ich nehme sie dir weg«, sagt sie und greift nach den Zigaretten. »Und du gehst mir heute nicht mehr aus dem Haus, Mister!«
    »Das ist mir doch schnuppe!« Ich starre sie wütend an. »Und wieso musst du so was hier anziehen? Du widerst mich an!«
    »Ich tue was?« Nun hat sie mich in die Enge gedrängt und schlägt mir ins Gesicht. »Ich tue WAS? Ich widere« – klatsch – »dich an?« – klatsch – »Ich widere« – klatsch – »dich an?« – klatsch – »Hast du das gesagt?« – klatsch – »Ja? So denkst du über mich?«
    »Nein! Nein!«, schreie ich. »Hör auf!«
    Ich schütze mein Gesicht und laufe hinaus, die Treppe hinunter, durch die Garage. Ich bleibe weg, bis es schon lange dunkel ist. Als ich endlich nach Hause komme, ist das Zimmer meiner Mutter verschlossen, und ich meine, sie drinnen weinen zu hören. Ich gehe in mein Zimmer. Die Zigaretten sind noch da. Ich zünde mir eine an und fange selbst an zu weinen.

Kinder, die ihre Eltern peinlich finden
    R ose hatte den Kopf nach hinten übers Waschbecken gebeugt, und meine Mutter besprühte mit einem speziellen Wasserhahn behutsam ihr Haar mit Wasser. Offenbar hatten die beiden bereits viel Erfahrung mit dieser Situation. Roses Kopf war bequem auf Kissen und Handtücher gebettet, sodass meine Mutter gut an ihrem Haar arbeiten konnte.
    »Ist es warm genug, Schätzchen?«, erkundigte sich meine Mutter.
    »Ooooh ja, meine Liebe. Wunderbar.« Rose schloss die Augen. »Weißt du, Charley, deine Mutter hat mich schon frisiert, als ich noch viel jünger war.«
    »Dein Herz ist noch immer jung, Rose«, entgegnete meine Mutter.
    »Das ist aber auch das einzig Junge an mir«, versetzte Rose.
    Die beiden lachten.
    »Wenn ich in den Schönheitssalon ging, fragte ich immer nach Posey, und falls sie nicht da war, kam ich am nächsten Tag wieder. ›Möchten Sie nicht jemand anderen?‹, fragten sie mich. Aber ich sagte immer: ›Niemand kann so mit meinen Haaren umgehen wie Posey‹.«
    »Das ist reizend von dir, Rose«, sagte meine

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