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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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fester.
    »Und was ist das für ein Anlass?«
    »Ich werde meinen Mann treffen.«
    Ich wollte nicht fragen, wo er sich aufhielt, für den Fall, dass er in einem Krankenhaus oder einem Pflegeheim war, und sagte deshalb nur: »Ah ja? Das ist schön.«
    »Ja«, sagte sie leise.
    Meine Mutter zupfte an einem Fädchen am Mantel herum. Dann sah sie mich an und lächelte. Rose trat zurück, und die Tür fiel zu.
    Vorsichtig gingen wir die Verandatreppe hinunter. Meine Mutter hatte sich bei mir eingehakt. Als wir zum Gehweg kamen, wies sie nach links. Die Sonne stand direkt über uns.
    »Was hältst du von Mittagessen, Charley?«, fragte meine Mutter.
    Ich hätte beinahe gelacht.
    »Was?«, sagte meine Mutter.
    »Nichts. Ja, gerne. Mittagessen.« Das ergab ebenso viel oder wenig Sinn wie alles andere.
    »Geht’s dir jetzt besser, nachdem du ein Weilchen geschlafen hast?«
    Ich zuckte die Achseln. »Ich denke schon.«
    Sie tätschelte mir liebevoll die Hand.
    »Sie stirbt, weißt du.«
    »Wer? Rose?«
    »Hm.«
    »Das versteh ich nicht. Sie sah doch gut aus.«
    Meine Mutter blinzelte in die Sonne.
    »Sie wird heute Nacht sterben.«
    »Heute Nacht?«
    »Ja.«
    »Aber sie hat doch gesagt, sie würde ihren Mann treffen.«
    »Das stimmt auch.«
    Ich blieb stehen.
    »Mama«, sagte ich, »woher willst du das wissen?«
    Sie lächelte.
    »Ich helfe ihr bei der Vorbereitung.«

MITTAG

Chick an der Uni
    I ch nehme an, dass der Tag, an dem ich mein Studium begann, einer der glücklichsten im Leben meiner Mutter war. Zumindest zu Anfang. Die Uni übernahm die Hälfte meiner Studienkosten, weil ich als Baseballspieler ein Stipendium bekommen hatte. Wenn meine Mutter Freundinnen davon erzählte, erwähnte sie aber immer nur stolz das Wort »Stipendium« und brachte Baseball nicht zur Sprache, als gäbe es keinen Sport an der Uni, nur Bücher.
    Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als mein erstes Semester begann und meine Mutter mich zur Uni fuhr. Sie war schon im Morgengrauen aufgestanden, und als ich die Treppe hinunterstolperte, erwartete mich ein riesiges Frühstück mit Pancakes, Bratspeck und Spiegeleiern, das für sechs Mann ausgereicht hätte. Meine Schwester wollte auch mitkommen, aber ich hatte gesagt, das käme nicht in Frage – womit ich meinte, dass es schon schlimm genug war, wenn meine Mutter mich begleitete. Roberta tröstete sich mit einem Teller French Toast mit Sirup. Nach dem Frühstück lieferten wir sie bei Nachbarn ab und brachen zu unserer vierstündigen Tour auf.
    Da diese Unternehmung in den Augen meiner Mutter ein wichtiges Ereignis war, hatte sie sich entsprechend »zurechtgemacht«: Sie trug einen lila Hosenanzug mit einem langen Tuch um den Hals, hochhackige Schuhe und Sonnenbrille und bestand darauf, dass ich mir ein weißes Hemd und eine Krawatte anziehen sollte. »Du gehst an die Uni und nicht zum Angeln«, sagte sie. In dieser Aufmachung wären wir schon in Pepperville Beach aufgefallen, aber man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Uni in den sechziger Jahren handelte, wo korrekte Kleidung aus besonders lässiger Kleidung bestand. Als wir dann auf dem Campus parkten und aus unserem Chevy-Kombi stiegen, befanden wir uns inmitten junger Frauen, die flache Sandalen und Folkloreröcke trugen, und langhaariger junger Männer in ärmellosen T-Shirts und Shorts. Und wir standen da mit Krawatte und lila Hosenanzug, und ich hatte wieder einmal das Gefühl, dass meine Mutter mich der Lächerlichkeit preisgab.
    Sie wollte wissen, wo die Bibliothek zu finden sei, und fragte jemanden nach dem Weg. »Schau nur, all die Bücher, Charley«, staunte sie, als wir uns dort umsahen. »Die könnte man in vier Jahren nicht alle lesen.«
    Ständig zeigte sie auf irgendetwas. »Schau! Diese Nische – da könntest du lernen.« Oder: »Sieh mal, da drüben, dieser Tisch in der Cafeteria, da könntest du essen.« Ich ertrug ihr Benehmen, weil ich wusste, dass sie in Kürze aufbrechen würde. Später, als wir über den Rasen spazierten und uns ein hübsches Mädchen entgegenkam – weißer Lippenstift, Ponyfransen, einen Kaugummi kauend -, das mir einen bedeutsamen Blick zuwarf, spannte ich die Armmuskeln an und dachte: Wer weiß, vielleicht mein erstes Mädchen hier an der Uni? In diesem Augenblick sagte meine Mutter: »Haben wir eigentlich deinen Kulturbeutel eingepackt?«
    Was sollte ich darauf antworten? Ja? Nein? Herrgott, Mama? Alles war unpassend. Das Mädchen spazierte an uns vorbei und grinste, oder wenigstens

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