Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
wiederum so mit meinem eigenen Drama beschäftigt gewesen, dass ich eigentlich kaum noch etwas über sie wusste.
    Während der Fahrt sah ich zum ersten Mal andere Menschen. Ein runzliger alter Mann mit grauem Bart brachte einen Rechen in seine Garage. Meine Mutter winkte ihm zu, und er winkte zurück. Auf einer Veranda saß eine Frau, deren Haar so cremig weiß war wie Vanilleeis. Sie trug ein Hauskleid, und auch sie winkte meiner Mutter zu, die den Gruß erwiderte.
    Wir fuhren eine ganze Weile, dann wurden die Straßen schmaler und holpriger. Auf einer Schotterstraße bogen wir ab und hielten vor einem Zwei-Familien-Haus mit einer überdachten Veranda, die von Kellertüren flankiert war. An den Wänden blätterte die Farbe ab. Auf der Zufahrt standen mehrere Autos, und im Vorgarten lag ein Fahrrad. Miss Thelma parkte und schaltete den Motor ab.
    Und plötzlich befanden wir uns im Haus. Das Schlafzimmer hatte holzgetäfelte Wände und war mit olivfarbenem Teppichboden ausgelegt. Unversehens sah ich Miss Thelma in dem altmodischen Pfostenbett liegen, an zwei Kissen gelehnt.
    »Wie ist das passiert?«, fragte ich meine Mutter.
    Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sagen »nicht jetzt«, und begann ihre Tasche auszupacken. Irgendwo hörte ich Kinder kreischen, ein Fernseher lief, und Teller wurden auf einen Tisch gestellt.
    »Die glauben alle, ich schlafe«, flüsterte Miss Thelma.
    Sie sah meine Mutter an.
    »Ich wär jetzt wirklich dankbar dafür, Posey. Könntest du?«
    »Aber sicher«, antwortete meine Mutter.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Ich erzähle ihr nicht, dass ich Vater wiedergesehen habe. Bei meinem nächsten Spiel ist er auch da und nickt mir zu, als ich zur Schlagplatte gehe. Diesmal nicke ich auch, nur knapp, aber immerhin. Und ich schaffe einen Homerun und zwei Doubles.
    So geht es dann mehrere Wochen. Mein Vater sitzt da und beobachtet das Spiel. Und ich treffe den Ball, als sei er einen halben Meter breit. Irgendwann, nach einem Auswärtsspiel, bei dem ich zwei Homeruns erziele, wartet er nach dem Spiel am Mannschaftsbus. Er trägt eine blaue Windjacke über einem weißen Rollkragenpullover, und nun sehe ich seine grauen Schläfen aus der Nähe.
    Er reckt das Kinn hoch, als er mich sieht; vielleicht macht ihm die Tatsache zu schaffen, dass ich jetzt größer bin als er. Und seine ersten Worte sind:
    »Frag deinen Trainer, ob du mit mir zum Campus zurückfahren darfst.«
    Ich könnte alles tun in diesem Moment. Ich könnte ausspucken. Ich könnte ihm sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Ich könnte ihm keine Beachtung schenken, so wie er uns keine Beachtung geschenkt hat.
    Ich könnte etwas über meine Mutter sagen.
    Doch ich tue genau das, was er mir aufgetragen hat. Ich bitte um die Erlaubnis, nicht im Mannschaftsbus zurückfahren zu müssen. Mein Vater achtet die Autorität meines Trainers. Ich achte die Autorität meines Vaters. So ist die Welt sinnvoll organisiert unter uns Männern.
    Ich weiß nicht recht, Posey«, sagte Miss Thelma, »da musst du Wunder vollbringen.«
    Sie blickte in einen Handspiegel. Meine Mutter förderte kleine Tiegel und verzierte Kästchen zutage.
    »Nun, das hier ist ja auch meine Wundertasche«, erwiderte sie.
    »Ach ja? Ist da auch was gegen Krebs drin?«
    Meine Mutter hielt ein Fläschchen hoch. »Ich hab jedenfalls Feuchtigkeitslotion.«
    Miss Thelma lachte.
    »Findest du das albern, Posey?«
    »Was denn, Schätzchen?«
    »Dass ich gut aussehn will – ausgerechnet jetzt?«
    »Das ist ganz normal, falls du das meinst.«
    »Na ja, weißt du, da draußen sind meine Jungs und Mädchen, deshalb. Und die Enkel. Für die möcht ich gern gesund aussehn, verstehst du? Ich möcht nicht, dass sie sich erschrecken, weil ich ausseh wie ein alter Putzlumpen.«
    Meine Mutter verteilte mit kreisenden Bewegungen Feuchtigkeitslotion auf Miss Thelmas Gesicht.
    »Du wirst nie aussehen wie ein Putzlumpen«, sagte sie.
    »Ach, rede du nur, Posey.«
    Sie lachten beide.
    »Manchmal vermiss ich die Samstage«, sagte Miss Thelma. »Wir hatten schon viel Spaß, nicht wahr?«
    »Hatten wir«, antwortete meine Mutter.
    »Hatten wir wirklich«, bekräftigte Miss Thelma.
    Sie schloss die Augen, während meine Mutter sich mit ihrem Gesicht beschäftigte.
    »Chickadu, deine Mama ist die beste Partnerin, die ich je hatte.«
    Ich verstand nicht, was sie meinte.
    »Haben Sie auch im Schönheitssalon gearbeitet?«, fragte ich.
    Meine Mutter grinste.
    »Ach nee«, sagte Miss Thelma. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher