Nur einen Tag noch
weshalb kam ich mir dann wie einer vor?
Wenn ich heute zurückschaue, fällt mir auf, dass ich vieles nicht wusste. Ich wusste nicht, was diese Nachricht bei meiner Mutter bewirkte. Ob sie wütend war oder sich Sorgen machte. Und ich wusste gewiss nicht, dass sie, während ich mit meinem Vater Bier trank, gemeinsam mit der Frau, die einst unsere Putzfrau gewesen war, nun bei anderen Leuten putzte, um unsere Rechnungen bezahlen zu können.
Ich betrachtete die beiden Frauen – Miss Thelma, die, an ihre Kissen gelehnt, aufrecht im Bett saß; meine Mutter, die mit Make-up und Eyeliner zu Werke ging.
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte ich.
»Wovon?«, sagte sie.
»Dass du, wegen des Geldes, meine ich -«
»Dass ich Böden wischte und fremden Leuten die Wäsche wusch?« Meine Mutter lachte. »Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich fürchtete, dass du mich so anschauen würdest wie jetzt gerade.«
Sie seufzte. »Du warst immer sehr stolz, Charley.«
»War ich nicht«, fauchte ich.
Sie zog die Augenbrauen hoch und wandte sich dann wieder Miss Thelma zu. Leise murmelte sie: »Wenn du meinst.«
»Lass das!«, sagte ich aufgebracht.
»Was?«
»Dieses ›wenn du meinst‹.«
»Ich hab damit nichts Bestimmtes gemeint, Charley.«
»Hast du wohl!«
»Schrei bitte nicht.«
»Ich war nicht stolz! Nur weil ich -«
Meine Stimme brach. Was tat ich denn da? Ich blickte zu Boden. Da verbrachte ich nur einen halben Tag mit meiner toten Mutter, und wir stritten uns schon wieder.
»Ist keine Schande, wenn man Arbeit braucht, Chickadu«, bemerkte Miss Thelma.
»Du warst einer der wenigen Menschen, die wirklich versucht haben, mir zu helfen.« Meine Mutter streichelte Miss Thelmas Hand. »Und zum Glück sind wir Freundinnen geblieben.«
Ich hatte die beiden nie für Freundinnen gehalten. Miss Thelma hatte ich nach dem Verschwinden meines Vaters zum letzten Mal gesehen. Eines Tages, als ich von der Schule heimkam, saßen die beiden zusammen in der Küche und tranken Kaffee. Als ich hereinkam, verstummte das Gespräch. Danach hatte ich Miss Thelma nie wieder zu Gesicht bekommen.
»Hab’s ja schon gesagt, ist keine Schande, wenn man Arbeit braucht«, sagte Miss Thelma. »Aber ich hab nichts gekannt außer der Arbeit, die ich selbst gemacht hab. Deine Mama fragt mich: ›Und wie wär’s damit?‹ Und ich sag: ›Posey, willste wirklich bei fremden Leuten sauber machen?‹ Darauf sie: ›Thelma, wenn du dir nicht zu fein zum Putzen bist, wieso soll ich’s dann sein?‹ Weißt du noch, Posey?«
Meine Mutter holte tief Luft.
»Ich habe nicht ›willste‹ gesagt.«
Miss Thelma johlte. »Nee, nee, da haste Recht, das haste nicht gesagt.«
Die beiden brachen in Gelächter aus. Meine Mutter beschäftigte sich mit Miss Thelmas Augen.
»Halt still«, sagte sie streng, aber dann mussten sie beide wieder lachen.
»Ich finde, Mama sollte wieder heiraten«, sagte Roberta.
Das brachte sie vor, als ich einmal von der Uni aus anrief.
»Was willst du damit sagen?«
»Sie ist immer noch hübsch. Aber niemand bleibt immer hübsch. Sie ist auch nicht mehr so schlank wie früher.«
»Sie will aber nicht wieder heiraten.«
»Woher weißt du das?«
»Sie muss nicht mehr heiraten, Roberta, okay?«
»Wenn sie nicht bald jemanden findet, will sie keiner mehr.«
»Hör jetzt auf damit.«
»Sie trägt jetzt einen Hüfthalter, Charley. Ich hab’s gesehen.«
»Das interessiert mich nicht, Roberta! Herrgott!«
»Du hältst dich für so überlegen, bloß weil du an der Uni bist.«
»Gib jetzt Ruhe.«
»Hast du mal den Song ›Yummy, Yummy, Yummy‹ gehört? Der ist ja so blöd. Wieso spielen sie den ständig?«
»Hat sie was davon gesagt, dass sie wieder heiraten will?«
»Schon möglich.«
»Roberta, ich meine es ernst. Was hat sie gesagt?«
»Nichts, okay? Aber weiß der Teufel, wo Papa steckt. Und sie sollte nicht die ganze Zeit allein sein.«
»Hör auf zu fluchen«, sagte ich.
»Ich sag, was ich will, Charley. Du bist nicht mein Boss.«
Roberta war damals fünfzehn Jahre alt, ich zwanzig. Sie wusste nichts davon, dass mein Vater wieder aufgetaucht war. Ich hatte ihn immer wieder gesehen und mit ihm sprechen können. Sie wollte, dass meine Mutter glücklich war. Ich wollte, dass sie in ihrem jetzigen Zustand blieb. Neun Jahre waren vergangen seit jenem Samstagmorgen, als meine Mutter die Cornpuffs in der Hand zerquetschte. Seit neun Jahren waren wir keine Familie mehr.
Scheidung, dachte ich
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